Betreutes Wohnen: Ein WG-Roman (German Edition)
Beziehung, die wir nicht haben, weil sie die Libido ausschalten, meine jedenfalls. Tante Matthes erzählt da zwar etwas anderes, aber das ist seinem Naturburschenimage geschuldet. Er hält sich für so einen Surferdude, der sich alles reinpfeifen kann, ohne Schaden zu nehmen, und einen hoch kriegt er allemal. Das glaubt er wirklich, und deswegen war auch niemand besonders erstaunt, als er sich dreieinhalb Jahre später mit dem Porsche seines Vaters um den Baum gewickelt hat, denn das waren zu dieser Zeit seine Hobbys: Amphetamine und Autofahren. Aber noch steht Tante Matthes vor mir, zählt vier vor und wir singen das Lied aus diesem Film:
»Ich hack ein Loch in unser Raumschiff /
Ich weiß, das ist nicht gut /
Scheißegal, ich mach es trotzdem /
Goodbye und guten Flug.»
Das singen wir jedes Mal, wenn wir etwas einwerfen, was zumindest in meinem Fall so häufig nicht ist, aber ich finde, das Lied spiegelt auch sonst mein Lebensgefühl sehr gut wider. Tante Matthes ist übrigens nichts passiert bei dem Unfall, er hatte bloß ein Schleudertrauma und später dann ein Autohaus in Pasing.
»Du hast eine Fahne«, sagt meine Mutter, ich antworte: »Bierchen getrunken«, und sie zupft missbilligend an meinem Hemd herum. Dann will mein Vater uns fotografieren, weil er gleich losmuss.
Rieke steht auch bei ihrer Familie, popelt nervös an ihrem Nasenring herum und rollt mit den Augen, als unsere Blicke sich treffen. Keine Ahnung, was sie mir damit sagen will.
Ihr Freund hält ihre Hand, seine linke Augenhöhle schimmert gelblich und die Wange darunter ist leicht geschwollen. Das hat er von mir. Ich habe ihn geschlagen, weil ich dachte, dass es mir danach bessergeht, aber ich habe mich bloß vollkommen lächerlich gefühlt, und das war auch eine interessante Erfahrung, rede ich mir ein. Er ist kleiner als ich, hat sich nicht mal richtig gewehrt, und Rieke hat natürlich einen Riesenaufstand gemacht, aber sie ist keine gute Schauspielerin und man hat gemerkt, dass sie es irre spannend findet, dass sich Männer ihretwegen schlagen, und damit war der Gipfel der Lächerlichkeit fürs Erste erreicht. Wenn ich Rieke nicht liebte, würde ich sie nicht einmal mögen, glaube ich.
Ich würde mich auch bei Riekes Freund entschuldigen, wenn er nicht so ein Vollidiot wäre. Ist er aber – ich winke ihm zu, er guckt wütend zurück und ich wünsche mir, ich hätte die Pappe nicht ausgespuckt. Dann wäre das hier nur Drogenquatsch und nicht mein richtiges Leben.
Ist es aber, klingelt die Glocke, und die große Zeremonie beginnt. Wir spielen mit einer Oberstufen-Allstarband »Summertime« mit einem Religionslehrer am Klavier und eine Bossa-Version von »Anarchy in the UK« als Überraschung. Der Lehrer fragt, ob alles klar ist, als ich die Gitarre umschnalle, ich sage: »Alles klar, aber das LSD fängt an zu wirken«, und wir lachen. Er freut sich, als aus dem Blue Bossa langsam das Sex-Pistols-Stück wird, und zeigt an, dass er gern ein Solo spielen möchte. Der gesamte Lehrkörper im Publikum wippt mit, findet sich sehr progressiv, lässt sich zu standing ovations hinreißen und die eklige Vertrauenslehrerin will uns danach alle umarmen.
Als wir wieder sitzen, beschwert sich unser Schlagzeuger, dass ich die Breaks versaut hätte, und hat damit Recht. Ich habe ständig auf die Uhr geschaut, weil ich wissen wollte, wie viel Zeit mir noch bleibt, bis die Wände sich aufrollen und der Fußboden anfängt zu schwimmen. Antwort: eine Viertelstunde.
Unser Direktor tritt ans Mikrofon, macht einen Schmunzelwitz über Anarchie und hält eine Rede über gesellschaftliche Verantwortung und Bildung, während unser Equipment hinter ihm anfängt, langsam Richtung Decke zu wachsen. Es geht also doch schon los, denke ich und mache die Augen zu. Als ich sie wieder aufmache, ist alles normal und ich weiß immer noch nicht, ob ich jetzt mit oder ohne Drogeneinwirkung paranoid werde.
Ich drehe mich Rieke zu, die zuckt mit den Schultern, also merkt sie noch nichts, aber Bernd kritzelt schon enthemmt in seinem Block herum.
Tante Matthes steht an der Tür und sieht extrem bedröhnt aus, aber bei ihm fällt das schon niemandem mehr auf. Es folgt eine Abiturientenrede, die noch staatstragender ist als die des Direktors. Der Redner ist heute wissenschaftlicher Mitarbeiter eines Bundestagsabgeordneten, aber noch steht er am Pult und quatscht Blödsinn, bis Tante Matthes »Fuck you« brüllt. Wir drehen uns um, meine Mutter schaut mich vorwurfsvoll an, weil
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