Betty kann alles
wirst!»
Ich für meinen Teil war nicht so sicher, daß sie es geschafft hatte.
Gesangsstunden hatten wir bei der Schwester unseres Sonntagsschullehrers, das heißt, Mary lernte singen, und meine Aufgabe war es, sie zu begleiten. Da wir aber stets zusammen anzutreten hatten, nannten wir es «unsere Gesangsstunde».
Mrs. Potter hatte eine äußerst voluminöse Altstimme. Der Ton war allerdings sehr gaumig, und es hörte sich stets an, als sänge sie mit stark verschleimter Kehle. Sie galt als ausgezeichnete Lehrerin und kannte Madame Schumann-Heink persönlich, was sie in jeder Stunde mindestens zehnmal anbrachte.
«Paßt auf mein Zwerchfell auf!» befahl sie, und dann ging es los. «Bröng möch suröck noch Vörginia, wo dö Baumwolle önd söße Körtöffeln gedeihen…»
Anfänglich wollte Mrs. Potter unbedingt auch mir das Singen beibringen, aber ich hatte lange mit den Mandeln zu tun gehabt, und da fand meine Mutter es besser, mich nur meine Schwester begleiten zu lassen. Für ein Weilchen gefiel mir das ganz gut.
«Wenn die Morgenröte am Himmel flammt, ach, wie lie-hieb ich di-hich, wie lie-hieb ich di-hich», sang Mary mit hingebungsvollem Schmalz unserem Vetter Reginald Cox ins Ohr. Der Arme porträtierte zu jener Zeit meine Mutter und mußte sich als Vergeltungsmaßnahme Marys Gewinsel anhören. Mich dünkte Marys Wiedergabe von «In der Morgendämmerung» das schönste, was es überhaupt auf dem Gebiet des Gesanges geben konnte, und dementsprechend war ich jedesmal zu Tränen gerührt.
Ich war damals zehn, Mary zwölf Jahre alt, und Romantik spielte eine große Rolle in unserem Leben. Doch gingen unsere Auffassungen von Romantik getrennte Wege. Während ich am liebsten immer «In der Morgendämmerung» gespielt hätte, so oft wir aufgefordert wurden, unsere Künste zu präsentieren, neigte Mary mehr dazu, sich in Mutters spanischen Schal zu wickeln und durch aufeinandergebissene Zähne zu singen: «Wen'ger als der Staub unter deinen Fü-hüßen; wen'ger als der Rost, der nie dein Scha-wert befleckt». Zu jener Zeit entwickelte sie eine besondere Vorliebe dafür, eigene Worte zu eigenen Melodien vorzutragen, und ich, als phantasiearme Begleiterin am Klavier, fegte hektisch über die Tasten, wechselte Tonart, Tempo und Rhythmus und erkannte schließlich, daß ich trotz aller Bemühungen über eine Seite zurückgeblieben war. Hielt ich dann inne und zeigte Mary, wo sie war und wo ich war und was sie gesungen und was ich gespielt hatte und was sie hätte singen sollen, dann fühlte sich die große Künstlerin beleidigt, seufzte vernehmlich und hub mit gequälter Miene von vorne an.
In jener kulturbeflissenen Epoche unserer Kindheit begann mein Bruder Cleve von seinen Schwestern als von «den blöden Gänsen» zu reden. Er brachte ein riesiges Schloß an seiner Schlafzimmertüre an, füllte die unterste Schublade seiner Kommode mit Patronenhülsen, lutschte kiloweise Hustenbonbons und verbrachte jede freie Minute in der Gesellschaft des Chauffeurs vom Autobus der Laurelhurst Linie.
Eines Tages, als Mary und ich gerade mitten in einer besonders gelungenen Vorstellung drin waren, kam Gammy ins Zimmer gefegt, unterbrach unsere künstlerische Darbietung, hielt meiner Mutter anklagend einen Armvoll leerer Hustenbonbonschachteln vor die Nase und erkundigte sich in unheilschwangerem Tone, ob es meine Eltern vielleicht interessiere, daß Cleve sich zum Opiumsüchtigen entwickelt habe, während Mary sich halbnackt (das bezog sich auf den spanischen Schal) in lüsternen Liedern erginge.
Bald darauf meldete sich Mary bei einem Wettbewerb für Vortragskünstler und gewann den ersten Preis.
«Das Mädchen gehört auf die Bühne», behauptete unsere Putzfrau, Mrs. Watson, als sie zum erstenmal Zeuge von Marys hochdramatischem Vortrag wurde, und ich teilte ihre Ansicht. Was Mary auch deklamierte, es klang mitreißend und unerhört schwungvoll, und so war ich begeistert, als sie sich anerbot, mich in die Schule zu nehmen.
Nachdem sie mich von jedem nur möglichen Gesichtspunkt aus beobachtet hatte, stempelte sie mich zum «niedlichen» Typ. Wie sie darauf kam, ist mir schleierhaft, denn ich war zu jener Zeit spindeldürr, hatte eine grünliche Gesichtsfarbe, trug einen das Haar straff zurückhaltenden Rundkamm und den Mund voller Goldklammem, die meine Zähne in Reih und Glied bringen sollten. Ob es reine Freundlichkeit von Mary war oder sie nur einem Wunschbild Ausdruck gab, weiß ich nicht – jedenfalls tat mir
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