Betty kann alles
ihr Urteil sehr gut, und mein Selbstbewußtsein hob sich merklich.
Meine erste auf «niedlich» zurechtgemachte Vortragsnummer war «Annie, das Waisenkind». Mary dressierte mich darauf, die Lippen wie ein Ubangineger vorzuwölben, die Stirn zu krausen, mit den Augen zu rollen, mit dem ausgestreckten Zeigefinger zu wackeln und dazu in der Klein-Kinder-Sprache zu sagen: «Wart nur, wart nur, wenn du nicht artig bist, holt dich der schwarze Mann», und weil Mary es niedlicher fand, mußte ich anstatt artig «ahtig» sagen, und bei der nächsten Zeile, die lautete: «Und dann sagte der Schreiner ein sehr häßliches Wort; er sagte: Zum Teufel!» fand meine Lehrerin es angebracht, anstatt Teufel «Teifel» zu sagen.
Dem Rest der Familie gingen meine «niedlichen» Deklamationen entsetzlich auf die Nerven, und sie verheimlichten ihr Mißfallen nicht im geringsten; aber in der Schule hatte ich großen Erfolg. Ermuntert paukte ich mir noch weitere Gedichte in der Baby-Sprache ein, und Mary, die sehr stolz auf ihre Schülerin war, schleppte mich zu ihrer eigenen Lehrerin in Vortragskunst, die sich meine Darbietung gequält anhörte und dann höflich riet, ich solle weiter üben, was wir als Kompliment auffaßten.
Vortragskunst für junge Leute stand damals hoch in Blüte, und viele unserer Freundinnen und Freunde rezitierten ganze Kapitel beliebter Bücher auswendig. Sicher hätte ich dieses Studium auch auf genommen, wäre nicht in jenem Jahr mein Vater gestorben, was unseren verschiedenen Stunden, bis auf Ballett und Klavier, ein jähes Ende setzte. Was mich betraf, so hätte ich auch dem Klavier- und Ballettunterricht keine Träne nachgeweint.
War etwas mit sehr kleinen, festen Stichen genäht, so wurde es von Gammy als «zusammengebacken» bezeichnet. Zusammengebacken kam ich mir in den Ballettstunden vor. Wenn die anderen Mädchen Arabesken vollführten, daß es aussah, als seien sie Vögel im Fluge, wackelte ich unsicher auf einem Bein, und das andere, dessen Aufgabe es war, pfeilgerade zur Decke zu zeigen, hing schief und lahm herunter wie ein gebrochener Flügel. Standen wir an der Stange, dann zog und reckte und streckte ich meine Glieder, aber starr und unbiegsam wie Röhren widerstrebten sie jeder graziösen Bewegung, und ich schien auch weniger Gelenke zu haben als die übrigen Schülerinnen. Doch trotz aller Schwierigkeiten schaffte ich es schließlich, auf meinen Zehen stehen zu können, und in Ausübung dieser Kunst durfte ich in vielen Vorführungen der Schule mitwirken.
Bei einer Vorführung unserer Klasse traten wir in kurzen Röckchen aus gefältelter Seide auf; Streifen des gleichen Stoffes waren um die Stirn und eine Schulter geschlungen, doch sehr geschickt so angeordnet, daß unsere knospenden Busen verhüllt wurden. Wir stellten griechische Knaben dar und sollten den Zuschauern den Eindruck von Gladiatoren auf Triumphwagen vermitteln. Zu jenem Zeitpunkt waren wir bereits ziemlich fortgeschrittene Schüler; der Tanz erntete großen Erfolg, und wir wurden eingeladen, unsere Vorführung bei irgendeiner Feier des Heeres und der Marine in Woodland Park zu wiederholen.
Natürlich willigten wir freudig ein. Am Abend der Vorstellung jedoch waren wir kaum als angebliche Gladiatoren in wilden Sprüngen auf die Bühne gehüpft, als sich der um die Schulter geschlungene Streifen an Marys Kostüm löste, und das Publikum nicht umhin konnte zu bemerken, daß zumindest einer der Gladiatoren kein griechischer Knabe war. «Dein Schulterstreifen ist abgerissen!» zischte ich Mary warnend ins Ohr, aber sie sprang, tanzte und wirbelte weiter, und erst am Ende, als wir den Applaus der Zuschauer mit leutseligem Verbeugen entgegennahmen, ließ sie sich herbei, ihr Kostüm in Ordnung zu bringen. Ich war außer mir. «Bist du dir im klaren, Mary, daß du vor all den Leuten mit halbnacktem Busen herumgehüpft bist?» Nachsichtig lächelnd erwiderte sie mir: «Glaubst du, die Pawlowa oder Isidora Duncan hätten wegen eines zerrissenen Trägers ihren Tanz unterbrochen? Was auch zerreißt, die Vorstellung muß weitergehen, meine Liebe.» Unsere Lehrerin wie auch Heer und Marine waren sehr erfreut über Marys Verhalten. Die Begeisterung bei den anwesenden Mitgliedern von Heer und Marine ging sogar so weit, daß sie nach einer Wiederholung des Tanzes brüllten, die allerdings nicht stattfand, aber unsere Lehrerin sang vor den versammelten Schülerinnen Marys Loblied und pries sie als den Inbegriff einer wahren
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