Betty kann alles
daß sie nur den Anweisungen ihrer Lehrerin gehorche und einzig zu unserem Besten handle, denn wenn auch Mutter und Gammy anscheinend die Einsicht fehle, so sei sie sich absolut im klaren darüber, welchen nie wieder gutzumachenden Schaden sie unseren zarten Gemütern zufügen könnte, wenn der Einblick in das Salami-Buch den Schleier unserer Unwissenheit womöglich allzu unvorbereitet hebe und das Geschaute unseren schwachen Geist aus dem Gleichgewicht brächte. Unsere einzige Rachemöglichkeit war, ihr die Zeichnungen vorzuenthalten, die wir in Miss Crispins Kindergarten verfertigten, aber die wollte Mary sowieso nicht sehen.
Eines Tages trug Miss Crispin uns auf, einen Apfelbaum zu zeichnen, und da keines von uns Kindern in Butte jemals einen Apfelbaum zu Gesicht bekommen hatte, schlug sie vor, ein jedes Kind solle daheim nach dem Bild eines Apfelbaums suchen und es am nächsten Tag mit in den Kindergarten bringen. Wir erzählten Mutter und Gammy, was Miss Crispin uns aufgetragen hatte, und Mutter fand wirklich in unserem Kinderbuch «Drei kleine Schweinchen» einen bunten Apfelbaum abgebildet. Mary betrachtete den Baum kritisch und erklärte dann: «Wartet, ich zeige euch einen viel besseren.» Zu Cleves und meiner wild aufflackemden Freude öffnete sie das Salami-Buch, blätterte darin und zeigte uns schließlich ein Gebilde, das aussah wie ein dunkelgrüner Rosenkohl auf einem krummen, dünnen braunen Stengel und bedeckt mit roten Pickeln. «So zeichnet man Apfelbäume in der richtigen Schule», klärte Mary uns auf. «Da!» Sie riß die Seite aus dem Salami-Buch und überreichte sie uns großzügig. «Nehmt das Bild mit zu Miss Crispin, und ihr werdet erleben, was sie dazu sagt.» Wir folgten dem Rat, und Miss Crispin betrachtete sich das Gebilde lange Zeit, knetete ihren Teighals mit kundigen Fingern und machte nur: «Mmmmmmmmmm.»
Im nächsten Winter, als ich sechs Jahre alt war, durfte ich auch in die richtige Schule gehen, aber ich war so entsetzlich schüchtern, daß ich keinen Ton über die Lippen brachte und nur stammelnd flüsterte. Es dauerte daher einige Monate, bis die Lehrer herausfanden, daß ich schon lesen und schreiben konnte und eigentlich in die nächst höhere Klasse gehörte.
Ich mußte vor dem Schuldirektor laut lesen – über meine Lippen kam aber nur ein schwaches Flüstern – und dann vor der schadenfroh kichernden Klasse meinen Namen und einige Sätze an die Wandtafel schreiben. Als die schreckliche Feuerprobe überstanden war und man mir mitteilte, daß ich in die zweite Klasse aufgenommen sei, galt mein erster frohlockender Gedanke dem Salami-Buch. «Jetzt kriege ich auch eines!» Aber der Vormittag verstrich, ohne daß meine Hoffnung erfüllt wurde. Ich blickte mich verstohlen um, um herauszufinden, ob die anderen Kinder vielleicht schon im Besitz des Schatzes waren, aber ich konnte nichts entdecken.
Schließlich hielt ich es nicht länger aus und hob meine Hand. Die Lehrerin mißverstand mich und sagte: «Du kannst auf Nummer eins oder auf Nummer zwei gehen, Elisabeth.» «Wann kriegen wir unsere Salami-Bücher?» fragte ich, all meinen Mut zusammennehmend. «Euere was?» «Unsere Salamibücher», wiederholte ich, diesmal so laut ich konnte. Sie runzelte die Brauen und sagte nur abweisend: «Ich weiß nicht, was du da faselst. Jetzt nehmt eure Lesebücher und schlagt sie auf Seite drei auf.»
Ich stand auf und rannte zum Klassenzimmer hinaus. Nicht einmal meinen Mantel oder meine Gummischuhe nahm ich; wie ich ging und stand, lief ich weinend und außer mir vor Empörung davon und heim, wo Mutter und Gammy gerade bei einer Tasse Kaffee saßen.
«Wir kriegen keine!» stieß ich schluchzend hervor.
«Was kriegt ihr nicht?» fragte Mutter verständnislos.
«Salamibücher! Ich bin jetzt in der zweiten Klasse, und ich habe die Lehrerin gefragt, ob wir keine Salamibücher bekommen, und sie hat gesagt, sie weiß nicht, was ich da fasele.»
Mutter meinte, ich hätte wahrscheinlich eine andere Lehrerin als Mary, und offenbar benütze diese keine Salamibücher. Ich lehnte alle Trostversuche ab. Schule hatte seit langem nur die Erfüllung eines Zieles für mich bedeutet: ein Salami-Buch zu bekommen, in das ich geheimnisvolle Dinge schreiben oder zeichnen konnte, die ich wohl Cleve, aber um keinen Preis der Welt Mary zeigen wollte. Den ganzen Nachmittag blieb ich mürrisch und bockbeinig verschlossen gegen jede Einsicht, bis Mutter es nicht mehr aushielt und in die Stadt fuhr und mir
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