Bevor du gehst
ich finde, du musst sie anrufen. Auf jeden Fall.«
»Ich hab Scheiße gebaut«, bekannte Jude.
»Ja, stimmt. Doch da bist du nicht der Erste. Und du warst total unten. Aber ich fände es schlimm, wenn das so zwischen euch endet. Außerdem seid ihr jetzt quitt, oder?«
Jude erinnerte sich an den Abend in der Bowlingbahn. Wie er sich beim Anblick Beckas mit dem Drummer gefühlt hatte. Auf einmal war er ganz schlapp; fast konnte er spüren, wie ihm die Farbe aus den Wangen wich. »Hör zu, ich bin kaputt.« Jude gähnte.
Roberto verstand den Hinweis. »Klar, klar, wollte sowieso gerade gehen.« Zusammen stiegen sie die Treppe hinauf. An der Haustür zögerte Roberto und sah Jude an, als müsste er ihm etwas Wichtiges mitteilen. »Du kriegst das schon geregelt, Jude.«
Jude nickte reumütig. »Ich weiß, ich weiß. Ich will mich ja besser fühlen … Es ist bloß … nicht leicht, verstehst du.«
Roberto nickte.
»Was ist mit Daphne?« Jude war erstaunt, als die Worte aus seinem Mund kamen. Eigentlich hatte er gedacht, dass sie ihm egal war.
»Daphne?« Roberto lächelte. In seine Augen kam Leben. Lange kaute er auf der Frage herum, sah nach unten, wiegte den Kopf von einer Seite zur anderen. »Sie ist wie du. Ist nicht mehr zur Arbeit gekommen. Ist einfach auf Tauchstation gegangen, weißt du. Aber in letzter Zeit haben wir uns ein paarmal getroffen.«
Jude zog die Augenbraue hoch.
»Nur Freunde. Meine Spezialität.« Roberto machte eine Pause, um nachzudenken. »Daphne will Veterinärmedizin studieren. Sie hat sich bei mehreren Universitäten beworben. Alle in einem anderen Bundesstaat. Ich glaube, sie will so weit weg wie nur möglich.«
Die Nachricht machte Jude irgendwie froh. Er spürte ein Beben im Herzen. Als wäre ein betäubtes Nervenende zuckend erwacht. Das war immerhin etwas. Ein Mur meln. Jude trat vor und hielt die Tür auf. »Danke. Für den Scheck und für den Besuch. Das meine ich ehrlich. Du hättest nicht kommen müssen.«
Roberto lächelte. »Das war Beckas Idee. Sie hat dich noch immer gern, Kumpel.«
Jude ließ die Worte einsickern, akzeptierte sie als Tatsache. Becka Bliss McCrystal. Sie hatte ihn noch immer gern, obwohl sie allen Grund gehabt hätte, ihn aufzugeben. »Sag ihr … hey du .«
»Hey du«, wiederholte Roberto. »Das ist alles?«
»Das ist alles.«
30
Seit drei Tagen strich Jude schon das Haus – und hatte noch keinen Pinsel in den Farbeimer getaucht. Im ersten Schritt ging es nur um die »Oberflächenpräparierung«, wie es sein Vater ausdrückte. Das hieß, die alte Farbe abkratzen, die überall an den Mauern gesprungen war und blätterte. Eine geisttötende Arbeit, die man mit einem Spachtel, einem groben Schwamm und einem iPod auf Shuffle-Play erledigte. Um Augen und Kopf vor herunterfallenden Splittern zu schützen, trug Jude eine Sonnenbrille und einen Regenhut, den er ganz unten in einem Schrank gefunden hatte, dazu um den Hals ein feuchtes Tuch gegen die Hitze. Becka hätte bei seinem Anblick sicher gelacht und »witzig« gesagt. Trotzdem machte Jude die Arbeit Spaß. Es befriedigte ihn, die Abdeckplane auszubreiten, um die Farbspäne aufzufangen, und die Leiter langsam an der Hausmauer entlangzuschieben. Es war eine Knochenarbeit, die keine ausgefeilten Planungen erforderte. So konnten seine Gedanken frei dahinschweifen wie ein Wildpferd auf der Prärie.
Das Merkwürdige am Tod – abgesehen von seinem absoluten, herzzerreißenden, unergründlichen Grauen – war, dass der Alltag einfach weiterging wie ein träge vorbeigurgelnder Fluss. Er sickerte in jeden Winkel, in sein Zimmer, in den Keller und hinaus in die Straßen. Das Universum weinte und trauerte nicht; völlig unbeeindruckt nahm es seinen Lauf. Nichts änderte sich, auch wenn sich alles anders anfühlte. Freunde schickten SMS . Sein Vater klopfte an seine Zimmertür und ließ sich irgendwelche Sachen einfallen, um Jude aus dem Haus zu locken. Die Welt zupfte an Judes Ärmel. Er merkte, dass er abspülte, den Müll hinaus zur Straße schleppte, Farbe abkratzte. Bis er nicht mehr konnte. Wo er sich auch hinwandte, der Alltag spürte ihn auf und zerrte ihn zurück ins Land der Lebenden. Und damit hat sich der Fall , sinnierte Jude hoch oben auf seiner Leiter, als seine Arme über den Dachvorsprung schrubbten. Man musste sich von diesem Fluss treiben lassen bis zum Meer. Jude glaubte nicht an die Geschichten, die die Priester in der Kirche erzählten, an die Legenden, die in der Sonntagsschule gelehrt
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