Bevor mir der Tod die Augen schließt (Ein-Linnea-Kirkegaard-Krimi) (German Edition)
hinein, blieb jedoch abrupt stehen, als sie begriff, was sie da sah. Die Holzwände vor ihr waren über und über mit Blut bespritzt.
Sie atmete tief durch, um die Ruhe wiederzuerlangen. Dann drehte sie sich um und schaute zum Ausgang. Sie entdeckte eine schwache Blutspur, die über den ganzen Fußboden bis zur Tür verlief und die sie vorher nicht bemerkt hatte.
Dann wandte sie sich erneut um und begriff sofort, dass sie einen Fehler begangen hatte, denn das einfallende Licht hatte sie geblendet, und jetzt lag der Raum erneut im Dunkeln. Das Blut an den Wänden war nicht länger auszumachen. Als sie plötzlich in der hintersten Ecke ein blitzendes Augenpaar erblickte, stieß sie einen gellenden Schrei aus.
»Du hast mich erschreckt«, sagte sie.
Noch immer konnte sie nichts anderes erkennen. Sie zwang sich, so lange stehen zu bleiben, bis sie sich wieder an die Dunkelheit gewöhnt hatte. Nun konnte sie weiter hinten im Raum tatsächlich jemanden erahnen. Linnea konnte nun eine Silhouette ausmachen. Die Augen fixierten sie nach wie vor.
Mit einem Mal wurde ihr klar, dass sie diesen Blick nicht zum ersten Mal sah. Sie kannte ihn von jenen Opfern, die extremen Erlebnissen ausgesetzt worden waren und sich in sich selbst zurückgezogen hatten, um sich vor dem Schock und dem Leid zu schützen. Diese zierliche Person war zu Tode erschrocken worden. Es war schwer zu sagen, wie lange sie sich schon hier aufhielt, außerstande, sich zu bewegen oder um Hilfe zu rufen. Sie war paralysiert vor Schreck.
»Komm her«, sagte Linnea. »Ich möchte dir helfen.«
Sie streckte die Hand aus. Erst zeigte das Mädchen keine Regung, doch schließlich kam es näher. Auf dem Boden kriechend, lautlos. Selbst die schluchzenden Klagelaute waren verstummt.
»Ist dir kalt?«, fragte Linnea. »Ich kann dir eine Decke holen.«
Sie wagte sich ein bisschen näher an das Mädchen heran, das nun ebenfalls die Hand nach ihr ausstreckte. Sein Blick war nicht länger auf Linnea gerichtet, sondern auf einen Punkt hinter ihr.
Linnea drehte sich um. Im selben Moment wurde die Tür aufgestoßen.
3
G anz ruhig. Niemand will dir etwas tun.«
Linnea betrachtete das schwarze Mädchen vor ihnen auf dem Boden. Ihre Augen waren so dunkel, dass man die Pupille kaum von der Iris unterscheiden konnte, das Weiße darin war rot geädert, und der Blick flackerte nervös hin und her. Als hätte das Mädchen noch immer Angst vor etwas oder jemandem, der es auf sie abgesehen hatte. Inzwischen hatte sie den Atem unter Kontrolle, aber ihre Halsschlagader pulsierte weiterhin stark.
»Warum habt ihr diese Umkleidekabine nicht untersucht?«, fragte Linnea Thor. »Das hättet ihr doch als Allererstes tun müssen!«
»Haben wir ja auch.«
Sie starrte Thor an, noch immer zittrig nach der unerwarteten Begegnung.
»Was soll ich sagen«, fügte Thor gereizt hinzu. »Ich weiß nicht, wer dieser blinde Idiot war, der sie nicht entdeckt hat, aber er wird sein Fett schon noch abkriegen.«
Dann wandte er sich an das Mädchen.
»Wie heißt du?«, fragte er. »Was ist passiert?«
Er hielt sie fest, denn sie machte den Eindruck, als wollte sie jeden Moment fliehen, obwohl sie wohl kaum die Kraft dazu hatte. In den ersten Momenten, nachdem Linnea die junge Frau gefunden hatte, war es unmöglich gewesen, irgendeine Form des Kontakts mit ihr aufzubauen. Sie hatte geistesabwesend gewirkt und versucht, von ihnen wegzurobben. Linnea hatte sofort begriffen, dass das Mädchen nicht gefährlich war.
Jetzt waren die Kriminaltechniker damit beschäftigt, den Fund in der Umkleidekabine zu dokumentieren, und der Fotograf verewigte jeden Quadratzentimeter, damit ihnen ein Analytiker von Blutspritzern dabei helfen konnte, den Mord zu rekonstruieren. Thor hatte den Jungs von der Spurensicherung den Tatort überlassen und Linneas Anordnung befolgt, eine Decke und eine Thermoskanne mit Tee für das verschreckte Mädchen zu organisieren. Oder besser der verschreckten Frau, denn bei näherer Betrachtung verrieten die feinen Falten in ihrem Gesicht, dass sie ihren zarten Körperformen zum Trotz eher Ende zwanzig war. Obwohl sie afrikanisch aussah, klangen die wenigen Worte, die Thor ihr mit Müh und Not entlocken konnte, urdänisch.
»Ich will nicht«, sagte sie immer wieder. »Ich will nicht.«
Sie starrte Thor mit weit aufgerissen Augen an, schien aber irgendetwas ganz anderes vor sich zu sehen. Es war, als würde sie nicht zu ihm sprechen.
»Was willst du nicht? Was hast du
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