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Beweislast

Beweislast

Titel: Beweislast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gmeiner-Verlag
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Sehen vergehen.«
    Als er dieses Verwaltungsgebäude verließ, hörte er eine innere Stimme, die ihn ermunterte, sich dieser unglückseligen Entwicklung nicht zu beugen. Seit er Anfang des Jahres arbeitslos geworden war, bloß weil die Baufirma, bei der er ein halbes Leben lang als Ingenieur gearbeitet hatte, Insolvenz hatte anmelden müssen, bemühte er sich eisern um einen neuen Job. Er schrieb Bewerbungen, war bereit, als Pendler täglich 60 oder 100 Kilometer zurückzulegen – doch wo er auch vorstellig wurde, es war immer dasselbe: Einen 54-Jährigen will keiner einstellen. Je mehr er darüber nachdachte, desto größer wurde sein Zorn gegen die Politiker, denen er allesamt jegliche Ahnung vom tatsächlichen Geschehen an der Basis absprach. Sie wollten die Rentengrenze auf 67 Jahre anheben. Ein Schlag ins Gesicht für solche wie ihn. Sollten doch die Damen und Herren Politiker, die ihre Ärsche in den warmen und sicheren Ministerien breitdrückten, einmal erklären, welcher Unternehmer eine Person über 45 noch einstellte. Sein Blutdruck stieg immer, wenn er an diese himmelschreiende Ungerechtigkeit dachte. Als er zu seinem VW-Golf ging, den er auf dem Besucherparkplatz abgestellt hatte, stand sein Entschluss endgültig fest: Er würde kämpfen. Und je mehr man ihn in die Ecke drängen würde, bei Betrieben oder in diesem seltsamen ›Job-Center‹ der ›Agentur für Arbeit‹, desto heftiger wollte er sich wehren. Man würde noch an ihn denken.
     
    Red bloß nicht immer von früher. Wie oft hat er das seinen Eltern gesagt! Früher – nein, dieses Wort, er hatte es gehasst. Damals, als er noch ein Kind war, in den 50er Jahren, hatten sie alle von ›früher‹ gesprochen. Die Eltern und deren Eltern. Früher, das war die Zeit zwischen den großen Kriegen gewesen. Armut und Inflation, Angst vor neuem Völkermorden, das dann so verheerend wurde, wie keines der vielen zuvor. Dann die Kriegsgefangenschaft des Vaters, 4 Jahre England – Gott sei Dank nicht Russland. Die Zeit danach – wieder in Armut, in Trümmern, in Trostlosigkeit. Die Zeit der Hoffnung und des Aufbruchs. Sie alle haben mitgemacht, die Arbeiter und die Unternehmer, die Politiker und die Landwirte. Alle haben zugepackt, die Ärmel aufgekrempelt. Nicht Schwätzen war gefragt, sondern die praktische Arbeit. Was wir heute als Wirtschaftswunder bezeichnen, was uns erscheint, wie ein Geschenk des Schicksals, das war in Wirklichkeit eine harte, entbehrungsreiche Zeit gewesen. Ja, das war für ihn und seine Generation das Früher. Was wussten diese jungen, machtbesessenen Kerle, die wie Maden im Speck saßen, von früher? In den späten 60er Jahren geboren, hatten die doch nicht den geringsten Schimmer davon, was es bedeutet hat, in der Nachkriegszeit aufgewachsen zu sein. Damals, als man noch über die reichen Nachbarn staunte, die sich schon einen Fiat 500 leisten konnten. Oder gar einen VW-Käfer, mit dem sie damals bereits nach Italien gefahren sind, von dem kaum die Eltern sagen konnten, wo man dies auf der Landkarte fand. Denn die einzige Landkarte, die man zu Hause auftreiben konnte, hörte ohnehin unten am Bodensee auf. Die Welt war klein, sehr klein. Das war alles gerade mal 50 Jahre her. Dennoch schien es von jenen vergessen zu sein, die jetzt das Sagen hatten – die in die Chefetagen aufgestiegen waren, durchstudiert – wie Ketschmar es immer wieder formulierte. Durchstudiert oder von Beruf Sohn. Das waren die besten Voraussetzungen, um den Betrieb aus Großvaters Zeiten totzurechnen und betriebswirtschaftlich zu ruinieren. Menschen waren nur noch Kostenfaktoren, ein gutes Betriebsklima zählte nichts mehr. Statt ein positives ›Wir-Gefühl‹ aufzubauen, trugen Unternehmensberater dazu bei, dass jeder mit dem Ellbogen nach oben strebte. Niemand brauchte sich zu wundern, dass damit Deutschlands Niedergang begonnen hatte, dachte Ketschmar. Die wahren Werte zählten schon lange nichts mehr.

2
     
    Er fuhr auf dem direkten Weg zum Arbeitsamt, diesem mit Backsteinklinkern aufgemotzten Prunkbau am Rande der Göppinger Innenstadt. Seit einiger Zeit hatte man es umbenannt in ›Agentur für Arbeit‹. Als ob allein eine andere Bezeichnung den Bürokratenmief vertreiben könnte. Auch so ein Schwachsinn der jungen dynamischen Manager. Schönreden, Schönschwätzen. Wenn sich schon in dieser Republik nichts mehr zum Positiven änderte, dann mussten wenigstens neue Titel und Namen her. Mit den Berufsbezeichnungen hatte es angefangen, erinnerte er

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