Bezaubernd
erscheint mir so unwirklich wie … Gabriel und ich.
Gut, ich will nicht vorschnell urteilen.
Eine Chance, Iris, ich gebe dir eine Chance!
Als ich die Adresse suche, die Marion mir genannt hat, frage ich mich, wie die beiden sich ein Drei-Zimmer-Appartement in der Nähe des Boulevard Voltaire leisten können. Es wird verständlicher, als ich mich sechs Stockwerke zu Fuß hochquälen muss. Kein Aufzug bedeutet auch weniger Miete. Ich bin schweißgebadet, als ich schließlich läute. Die Klingel funktioniert nicht, also klopfe ich. Ich will schon über die unnötige Anstrengung jammern, als Iris mir barfuß und mit nassen Haaren die Tür öffnet, mich angewidert ansieht und lächelnd sagt:
„Ich küsse dich nicht zur Begrüßung, ich habe mich gerade frisch geschminkt!“
Frechheit!
Mir fallen einige Schimpfwörter ein, doch ich lasse mich besser nicht auf das Spiel ein.
„Darf ich die beiden Mieter sehen? Wir müssen wirklich über die Sache mit dem Aufzug reden!“
„Aber Treppen sind doch toll, das trainiert die Oberschenkel!“
Was stimmt nicht mit meinen Oberschenkeln?
„Komm, Amandine, wir sind alle in der Küche!“, ruft mir Marion zu, der wohl die Zeit schon zu lang wird.
„Die Aubracs werden jetzt also spießig! Grissini, Rohschinken und was ist das? Gazpacho?“
„Iris hat sie selbst gemacht“, antwortet Tristan stolz wie ein Pfau.
Die Blondine wirft sich an seinen Hals und küsst ihn leidenschaftlich. – Ein Kuss, der um 19:30 in einer Küche mit Publikum nichts verloren hat. Marion und ich machen ein angewidertes Gesicht und drehen uns weg. Ich versuche, die Unterhaltung weiterzuführen, um diesem mehr als peinlichen Kuss ein Ende zu bereiten.
„Eine Bruder-Schwester-WG, ihr seid ja verrückt! Ich habe es nicht einmal geschafft, mir die Fernbedienung mit Simon zu teilen, ich habe keine Ahnung, wie ihr miteinander klarkommen wollt.“
„Wir haben beschlossen, dass ich der Herr im Hause bin!“, scherzt Marion. „Einstimmig, obwohl ich eher dafür war als er.“
„So kann man mit Frauen auskommen“, gibt Tristan zurück. „Man lässt sie glauben, sie hätten etwas zu sagen, dann sind sie beruhigt.“
„Mein Schatz hat echt Ahnung“, fügt Iris hinzu, „und muss nicht immer den dominanten Macho spielen. Das ist ja auch so was von out.“
Vielen Dank für diese sozialwissenschaftlich kompetente Analyse, Fräulein Besserwisserin!
„Du stehst aber drauf, Amandine, nicht wahr? Zumindest verstehe ich das, was man mir erzählt hat, so …“
Na, heute strengst du dich ja wieder besonders an, Schätzchen …
„Ich weiß ja nicht, was man dir erzählt hat, aber Gabriel hat viele Facetten. Und ja, ich mag komplexe Männer.“
„Wenn du mich fragst, machen sich die Menschen heutzutage das Leben gerne schwer. Es ist in, sich gepeinigt zu fühlen!“
Ich frage dich aber nicht, Herzchen! Das hast du aber leider nicht verstanden …
„Ich mag komplexe Männer auch“, kommt mir Marion zu Hilfe. „Wie diesen Ferdinand de Beauregard! Ich bin sicher, dass sich hinter der Fassade des wohlerzogenen Dandys ein ganz unartiger Junge versteckt …“
„Und wie, er ist so gut erzogen, dass er keiner Frau in die Augen schaut, ganz im Gegenteil! Es vergeht kein Tag, an dem er nicht mein Outfit kommentiert und mir ein unmoralisches Angebot macht …“
„Nein, du hast schon einen Milliardär, den lässt du mir!“, mault Marion.
„Doppelt hält besser!“, erinnert sie Tristan.
Erneut mischt sich Iris ein, wie immer scheinheilig lächelnd und mit scharfer Zunge:
„Lasst sie in Ruhe, Amandine möchte geliebt werden, das ist alles, es gibt solche Menschen.“
„Vielen Dank, dass du dir um mich Sorgen machst, Iris, aber mir geht es gut. Ich möchte gar nichts.“
„Ich sage ja nur, dass du Tristan in dich verliebt gemacht hast, obwohl du ihn gar nicht wolltest, und es ist genauso menschlich, dass du dich an deinen Chef ranmachst, wenn dein Typ dich im Stich lässt.“
„Ich mache mich an überhaupt niemanden ran und niemand lässt mich im Stich, das ist eine Frechheit! Wollt ihr mich hier alle verurteilen heute Abend?“
„Ich wollte dich nicht verletzen, aber ich glaube, ich habe mitbekommen, dass Gabriel schon länger nicht mehr bei dir gewesen ist. Was treibt er eigentlich gerade so?“
Marion versucht erneut, das Thema zu wechseln, weniger, um mir eine Antwort zu ersparen, als um zu verhindern, dass ich explodiere.
„Auf jeden Fall, wenn du Ferdinand nicht
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