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Bildnis eines Mädchens

Titel: Bildnis eines Mädchens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dörthe Binkert
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noch: eine neue, unbekannte Welt.

St. Moritz, Anfang Juni 1896
    Der Morgen war frisch wie ein weißes Hemd, das man gestärkt und geglättet aus dem Dunkel des Wäscheschrankes holt, rein und
     unberührt. Edward Holbroke öffnete das Fenster und atmete die Frische ein, bis ihn fröstelte. Die Fassade der Pension Veraguth,
     in der sie abgestiegen waren, lag noch im Schatten. Und St. Moritz war ein verschlafenes Nest, das erst wieder für die Saison
     herausgeputzt werden musste, um eine glanzvolle Kulisse für die illustre Gesellschaft abzugeben, die in den nächsten Tagen
     und Wochen aus England, Frankreich, Deutschland, Italien anreisen und mit ihrer Dienerschaft die Grandhotels und Villen ringsum
     bevölkern würde.
    Der exotische Reiz des Aufenthaltes bestand in der besonderen Wirkung des Champagners in der dünnen Luft des Hochtals und
     den von Einheimischen geführten Bergtouren, auf denen man der gewaltigen Natur und ihren Abgründen ins Gesicht sah, ohne ihr
     anheimzufallen. Und wer sich trotz Bergführer fürchtete, konnte Tennis und Golf spielen oder Tontauben in Isola schießen.
     Höhenluft war gesund, die Sonne schien hier öfter als anderswo, und die Quellen von St.-Moritz-Bad halfen gegen nervöse Schwäche,
     Blutarmut und, wie man hinter vorgehaltener Hand hinzufügte, gegen Unfruchtbarkeit. Molkekuren und Ziegenmilch taten ein Übriges,
     um sich gesund wie die Bauern zu fühlen. Immerhin nahm man doch an, dass diese Leute eine unverwüstliche Konstitution hatten.
    Edward gähnte zufrieden. Mit all dem hatte er nichts zu schaffen.
    »Guten Morgen, mein Lieber!«
    Sein Reisegenosse hatte das Zimmer betreten, ohne anzuklopfen, ein Zeichen weitgehender Vertrautheit, aber auch einer gewissen
     Rücksichtslosigkeit.
    »Na, was hältst du von dem Ausblick aus deinem Fenster, Eddie? Gestern Abend nach der Ankunft war ich zu müde, um mir groß
     Gedanken über diesen Ort zu machen. Aber«, er trat neben seinen Freund ans weit geöffnete Fenster und machte eine ausholende
     Geste mit der Hand, als wolle er die Landschaft in Bausch und Bogen beschreiben und gleichzeitig verwerfen, »nun sehe ich,
     wo du mich hingebracht hast. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich hier mehrere Wochen verbringen möchte?«
    »Der See, die Berge, die Luft, das alles reicht dir nicht?«
    James Danby schwieg verächtlich. Stattdessen ließ er sich in den geblümten Sessel fallen, der neben dem Fenster stand, und
     zündete sich eine Zigarette an.
    »Wenn ich dir erzählt hätte, dass ich die Bergpflanzen des Engadins studieren will, wärst du nicht mitgekommen«, stellte Edward
     lakonisch fest.
    »Da hättest du dich nicht getäuscht. Du willst mich wohl auf den Arm nehmen! Willst du etwa mit der Botanisiertrommel los?
     Sag nur, du möchtest hier auch noch Kindergeburtstag feiern und Blinde-Kuh spielen.«
    »Nun komm schon, Jamie.« Edward schloss das Fenster und zog das Jackett über. »Jetzt lass uns erst mal frühstücken, ehe du
     wieder abreist. Immerhin hat es Marcel Proust in dieser Pension gefallen. Du könntest es übrigens bereuen, dass du nicht zum
     Blinde-Kuh-Spielen geblieben bist. In ein, zwei Wochen reisen die hübschesten Damen der europäischen Gesellschaft hier an.
     Sogar eine englische Prinzessin hat sichzur Eröffnung des ›Palace‹ angesagt. Vielleicht würde sie dich ja gern kennenlernen. Bist du nicht schon immer auf der Suche
     nach einer guten Partie gewesen? Schade, werde ich dann sagen   …« Edward zog seinen Freund vom Sessel hoch, hakte ihn unter und öffnete die Zimmertür. Der Duft von Milchkaffee stieg bis
     in den ersten Stock der Pension herauf und entlockte James ein fast versöhnliches Lächeln, obwohl er morgens immer Tee trank.
     
    James Danby reiste nicht ab, und es war nicht ganz auszumachen, ob ihn die Vergnügungen, die Edward ihm ankündigte, zurückhielten
     oder sein Pflichtgefühl, das nicht sehr ausgeprägt, aber doch von Zeit zu Zeit vorhanden war. Außerdem musste er Geld verdienen.
     Deshalb hatte er der englischen Zeitung, für die er arbeitete, einen Bericht über Giovanni Segantini versprochen, der in Europa
     inzwischen – außer in Frankreich, wo man ihn lieber ignorierte – einen großen Namen hatte und dessen Gemälde »Die Strafe der
     Wollüstigen« sich seit 1893 in der Walker Gallery in Liverpool befand.
    Er hatte das Bild gesehen, und es hatte durchaus Eindruck auf ihn gemacht. Nur mit dem Titel konnte er nichts anfangen, denn
     er sah nicht im

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