Bildnis eines Mädchens
höheren Töchterschule in Lugano zu dem Zweck, bald, nämlich gleich nach der Hochzeit, selbst
einen Haushalt und seine Mitglieder zu dirigieren, fiel ihrer Mutter in den Arm.
»Nicht ins Stahlbad! Wie das klingt! Niemals!« Das klang gequält und widerspenstig zugleich. Und leiser, aber doch mit einer
Entschiedenheit, die sie wohl von ihrer Mutter geerbt hatte, fügte sie hinzu: »Und nicht mit Tante Frieda.«
Das Mädchen steckte den Kopf zur Salontür herein. »Madame haben geklingelt?«
»Schon gut, Irma, es hat sich erledigt. Gleich, gleich … Machen Sie die Tür nur wieder zu, wir sind hier noch nicht fertig.«
Das Mädchen verschwand, und Emma Schobinger nahm einen neuen Anlauf. Renitent war Mathilde, schlicht renitent.
»Jetzt schau dir doch diesen Prospekt einmal an!« Sie nahm Mathilde die Broschüre, die sie ihr gerade in die Hand gedrückt
hatte, wieder ab, drehte sie um und sagte: »Schau,hinten steht es auf Französisch: Grand Hôtel des Nouveaux Bains. Das klingt doch elegant! Außerdem hat das Hotel eine eigene
Quelle und gilt als eines der großartigsten Etablissements am Ort.«
»Und warum darf ich nicht ins Hotel Viktoria? Das hat mehr Flair …«
»Weil es keine eigenen Heilbäder hat. Und du gehst, ich sage es zum wiederholten Mal, nicht zu deinem Vergnügen nach St. Moritz,
sondern wegen des Heilbades und der Quellen. Weil du nämlich unter Blutarmut leidest und unter nervösen Störungen.«
»Wenn ich ins Stahlbad muss, dann nur mit Tante Betsy.«
Man sollte es nicht glauben, aber so blauäugig, wie sie aussah, war Mathilde nicht. Emma strich über ihren knisternden schwarzen
Taftrock und zupfte an ihren weißen Manschetten. Mathilde würde zu ihrem Vater rennen und ihn so lange belagern, bis er nachgab.
Das musste vermieden werden. Denn je öfter das vorkam, desto mehr schwächte das ihre Position in der Familie und vor dem Personal.
»Und was ist mit der armen Tante Frieda?«
Mathilde witterte den Meinungsumschwung und hielt plötzlich still wie ein Lamm. Ihre Augen waren wirklich sehr blau. Sie schlug
die Lider nieder, als ihre Mutter weitersprach.
»Erstens schickt sich dein Benehmen mir gegenüber nicht, denn ich bin immer noch deine Mutter, und noch weniger gegenüber
Frieda. Soll sie denn immer nur herumgeschubst werden? Was ihr passiert ist, kann auch dir eines Tages zustoßen. Aber daran
will die Jugend ja nicht denken! Das rechtfertigt aber noch immer nicht einen Auftritt wie diesen.«
Mathilde saß sanft und friedlich da. Ihre krausen blonden Locken, die etwas zauselig aufgesteckt waren und wie kleine Sprungfedern
von ihrem Kopf in die Welt hüpften, erinnerten Emma immer wieder an ihre Schwester Elisabeth. Genausohatte Betsy mit neunzehn ausgesehen, nur dass Betsy dunkelhaarig war und vielleicht noch blauere Augen hatte als ihre Nichte.
Wenn Mathilde ihr nachschlug – und es hatte den Anschein, als wäre es so –, dann stand ihr als Mutter noch einiges bevor.
»Mama, es ist doch ganz einfach«, sagte Mathilde mit sanftem Nachdruck. »Erst sprichst du mit Tante Betsy, ob sie mich begleiten
möchte. Sie ist schließlich auch eine Witwe, wie Tante Frieda …«
»Aber sie hat mehr Geld.«
»Ja. Wenn sie zustimmt, sagst du Tante Frieda, dass Tante Betsy darauf besteht, mich zu begleiten. Jeder in der Familie weiß
doch, wie sie ist. Da kannst du gar nichts dafür. Niemand kommt gegen sie an, wenn sie etwas will.«
»Und Frieda?«
»Frieda lädst du zu einem Besuch in St. Moritz ein. Du wirst mich doch sicher mal besuchen wollen. Und dann kommst du mit
Tante Frieda für ein paar Tage hinauf.«
Das Seufzen ihrer Mutter deutete Mathilde als Sieg. Sie ergriff die Hand der kleinen Frau, die immer Schwarz trug, obwohl
ihr Mann sich bester Gesundheit erfreute, und drückte einen Kuss darauf.
»Danke, Mama!«
Emma sah aus dem Fenster, direkt auf den Zürichsee und dann auf die große Pendeluhr im Salon. Schließlich sagte sie, immer
noch ärgerlich: »Sechs Uhr. Deinem Vater erkläre ich das jedenfalls nicht. Gleich kannst du es ihm selber sagen. Du weißt
ja, was er darüber denkt: Junge Mädchen, die nervöse Störungen haben, drückt der Schuh anderswo. Er versteht sowieso nicht,
was du in einer Kur verloren hast. Mit Frieda oder ohne.«
***
Mathilde war Betsys Lieblingsnichte. Sie selbst war kein Familientier und hatte immer versucht, sich der – manchmal sogar
gut gemeinten – Einmischung zu entziehen, zu der
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