Billard um halbzehn
Gretz seine toten Tiere auf, immer so, daß die Wunden dem Publikum sichtbar waren; Hasenbäuche, Ta ubenbrüste, des Keilers aufgerissene Flanke; Blut mußte sichtbar sein; Frau Gretzens rosige Hände ordneten Leberlappen zwischen Pilzhaufen; Kaviar, über Eiswürfel gehäuft, glitzerte vor riesigen Schinken; Langusten, violett wie scharf gebrannte Ziegel, bewegten sich blind, hilflos tastend in flachen Aquarien, warteten auf kundige Hausfrauenhände, warteten am siebten, am neunten, am zehnten, elften September 1907, nur am achten, fünfzehnten und zweiundzwanzigsten September, an den Sonntagen blieb Gretzens Fassade frei von Blut, und ich sah die toten Tiere im Jahre 1908, 1909 - nur in den Jahren, in denen höhere Gewalt herrschte, sah ich sie nicht; sah sie immer, einundfünfzig Jahre lang - sehe sie jetzt, wo kundige
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Hausfrauenhände am Samstagnachmittag letzte Leckerbissen fürs Sonntagsmahl aussuchen.
»Ja, Leonore, Sie haben recht gelesen: erste Honorarzahlung einhundertfünfzigtausend Mark. Kein Datum? Das muß im August 1908 gewesen sein. Ja, ich bin sicher. August 1908. Sie haben noch nie Wildschwein gegessen? Sie haben nichts versäumt, wenn Sie meinem Geschmack trauen wollen. Hab's nie gemocht. Brühen Sie doch etwas Kaffee auf, spülen Sie den Staub hinunter, und kaufen Sie Kuchen, wenn Sie welchen mögen. Unsinn, das macht doch nicht dick, trauen Sie doch diesem ganzen Schwindel nicht. Ja, das war
neunzehnhundertunddreizehn, ein Häuschen für Herrn Kolger, Kellner im Cafe Kroner. Nein: kein Honorar.«
Wieviel Frühstücke im Cafe Kroner? Zehntausend,
zwanzigtausend? Ich hab's nie nachgerechnet, jeden Tag ging ich hin, die abgerechnet, an denen höhere Gewalt mich hinderte.
Ich sah, wie die höhere Gewalt heraufzog, ich stand drüben auf dem Dach des Hauses Numero 8, hinter der Pergola verborgen, blickte auf die Straße hinunter, sah sie zum Bahnhof ziehen, Unzählige sange n die Wacht am Rhein, riefen den Namen des Narren, der da immer noch auf seinem Bronzegaul westwärts reitet; sie hatten Blumen an ihren Arbeitermützen, an Zylindern, ihren Bankiershüten, Blumen in den Knopflöchern, hatten Normalunterzeug, System Professor Gustav Jäger, in kleinen Paketen unterm Arm; ihr Lärm brandete bis zu mir herauf, und sogar die Huren da unten in der Krämerzeile hatten ihre Stenzen zum Meldeamt geschickt, mit besonders gutem, warmem Unterzeug , unterm Arm - und ich wartete vergebens auf Gefühle, die ich mit denen da unten hätte teilen können; ich fühlte mich leer und einsam, gemein, zu keiner Begeisterung fähig und wußte gar nicht, warum ich dazu nicht fähig war; ich hatte nie darüber nachgedacht; ich dachte an meine Pionieruniform, die nach Mottenkugeln roch, mir immer noch paßte, obwohl ich sie mir mit zwanzig hatte machen lassen und
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inzwischen sechsunddreißig alt geworden war; ich hoffte nur, ich würde sie nicht anzuziehen brauchen; ich wollte Solist bleiben, nicht Komparse werden; sie waren übergeschnappt, die da unten singend zum Bahnhof zogen; die nicht ausrücken durften, wurden mit Bedauern angesehen, fühlten sich als Opfer, weil sie nicht dabeisein konnten; ich war bereit, mich als Opfer zu fühlen, und würde es nicht bedauern. Unten im Hause weinte meine Schwiegermutter, weil ihre beiden Söhne mit dem allerersten Aufgebot schon ausgeritten waren, zum Güterbahnhof, wo die Pferde verladen wurden; stolze Ulanen, um die meine Schwiegermutter stolze Tränen weinte; ich stand hinter der Pergola, die Glyzinien blühten noch, hörte von unten aus dem Mund meines vierjährigen Sohnes... muß haben ein Gewehr, muß haben ein Gewehr... und hätte hinuntergehen und ihn in Gegenwart meiner stolzen Schwiegermutter verprügeln sollen; ich ließ ihn singen, ließ ihn mit der Ulanen-Tschapka spielen, die seine Onkel ihm geschenkt hatten, ließ ihn seinen Degen hinter sich herschleppen, ließ ihn ausrufen: Franzos tot!
Englishman tot! Russ tot! Und nahm's hin, daß der Standortkommandant mit weicher, fast brechender Stimme zu mir sagte: ›Es tut mir ja so leid, Fähmel, daß wir Sie noch nicht missen können, daß Sie noch nicht dabeisein können, aber auch die Heimat braucht Leute, braucht gerade Leute wie Sie.‹
Kasernenbau, Festungsbau, Lazarette; nachts, in meiner Leutnantsuniform kontrollierte ich die Brückenwache; ältliche Kaufleute im Gefreitenrang, Bankiers im Rang eines Gemeinen salutierten beflissen, wenn ich den Treppenaufgang hinaufstieg, im Schein meiner
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