Billard um halbzehn
Falzbein.
Elf Uhr, fünfzehn Minuten; ich bürstete meinen schwarzen Anzug, prüfte den Sitz der Samtschleife, setzte den Hut auf, zog meinen Taschenkalender hervor, er war nur so groß wie eine flache Streichholzschachtel, schlug den Kalender auf und blickte hinein: 30. September 1907. 11.30 bei Kilb Entwurf abgeben.
Quittung verlangen.
Vorsicht! Zu oft hatte ich in planender Vorstellung diese Handlung vollzogen: die Treppe hinunter, über die Straße, durch den Flur, ins Vorzimmer. ›Ich wünsche Herrn Notar persönlich zu sprechen!‹ ›In welcher Angelegenheit?‹
›Ich möchte dem Herrn Notar einen Entwurf übergeben.
Preisausschreiben Sankt Anton.‹
Nur der Lehrling würde Überraschung zeigen, das Falzbein stillhalten, sich umblicken, dann aber beschämt sein Gesicht wieder der Straße, den Formularen zuwenden, eingedenk der Mahnung: Diskretion, Diskretion! In diesem Raum, wo Schäbigkeit zum Schick gehörte, die Porträts rechtsbeflissener Vorfahren an der Wand hingen, wo Tintenfässer achtzig Jahre alt wurden, Falzbeine einhundertundfünfzig; hier wurden gewaltige Transaktionen in Stillschweigen vollzogen; hier wechselten ganze Stadtviertel ihre Besitzer, wurden Heiratsverträge abgefaßt, in denen jährliche Nadelgelder ausgesetzt wurden, die höher waren als die Summe, die ein Kanzlist in fünf Jahren verdiente; hier wurde aber auch des biederen Schuhmachermeisters Zweitausender-Hypothek notariell bestätigt, des zittrigen Rentners Testament aufbewahrt, in dem er seinem Lieblingsenkel sein Nachttischchen vermachte; der Witwen und Waisen, der Arbeiter und Millionäre
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Rechtsgeschäfte wurden hier in Verschwiegenheit erledigt, angesichts des Wandspruchs: Voll ist ihre Rechte von Geschenken. Kein Grund, aufzublicken, wenn ein junger Künstler, im vom Onkel geerbten, gewendeten schwarzen Anzug, ein in Kanzleipapier gewickeltes Paket, Zeichenrollen, übergab und glaubte, den Herrn Notar deswegen persönlich bemühen zu müssen. Der Bürovorsteher versiegelte das Paket, die Zeichenrollen, drückte das Kilbsche Wappen, ein Lamm, dem der Blutstrahl aus der Brust brach, in den heißen Siegellack, während die Blonde, Rechtschaffene die Quittung ausschrieb: ›Am Montag, dem 30. September 1907, vormittags 11.35 übergab Herr Architekt Heinrich Fähmel...‹ Glitt nicht, als sie mir die Quittung hinhielt, über ihr blasses, freundliches Gesicht ein Schimmer des Erkennens? Ich war beglückt über das Unvorhergesehene, weil es mir bewies, daß Zeit etwas Wirkliches war; es gab also diesen Tag, diese Minute; bewiesen war es nicht durch mich, der ich tatsächlich die Treppe hinuntergegangen war, die Straße überquert, Flur und Vorzimmer betreten hatte; bewiesen nicht durch den Lehrling, der aufblickte, beschämt dann, der Diskretion eingedenk, sich wieder abwandte; bewiesen nicht durch die blutroten Wunden der Siegel; bewiesen war es durch das unvorhergesehene freundliche Lächeln der Kanzlistin, die meinen gewendeten Anzug musterte, mir dann, als ich die Quittung aus ihrer Hand nahm, zuflüsterte: ›Viel Glück, Herr Fähmel.‹ Diese Worte waren die ersten innerhalb der viereinhalb Wochen, die der Zeit eine Wunde schlugen, mich daran erinnerten, daß es Spuren von Wirklichkeit gab in diesem Spiel, das ich ablaufen ließ; die Zeit war also nicht nur in Traumkabinetten geregelt, wo Zukünftiges gegenwärtig, Gegenwärtiges mich seit Jahrhunderten vergangen dünkte, Vergangenes zukünftig wurde, wie eine Kindheit, auf die ich zulief wie als Kind auf meinen Vater. Er war still gewesen, Jahre häuften sich um ihn herum wie Bleischichten aus Stille; Orgelregister gezogen, beim Hochamt gesungen, bei
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Beerdigungen erster Klasse viel, zweiter Klasse wenig, bei denen dritter Klasse gar nicht gesungen; so still, daß mir jetzt, da ich an ihn dachte, ganz beklommen war; er hatte Kühe gemolken, Heu geschnitten, Korn gedroschen, bis das schweißverklebte Gesicht von Spelzen wie von Insekten bedeckt war; hatte den Taktstock geschwungen, für den Jünglingsverein, den Gesellenverein, den Schützenverein und den Cäcilienverein; sprach nie, schimpfte nie, sang nur, schnitzelte Rüben, kochte Kartoffeln fürs Schwein, spielte Orgel, zog seinen schwarzen Küsterrock an, das weiße Rochett drüber; niemandem im Dorf fiel auf, daß er nie sprach, weil alle ihn nur tätig kannten; von vier Kindern starben zwei an der Schwindsucht, blieben nur zwei: Charlotte und ich. Meine Mutter, zart, eine von denen, die Blumen
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