Billard um halbzehn
die schmale Modestgasse hinweg genau in den
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Safe hineinsehen, am obersten Fach das säuberlich gemalte Pappschild lesen: ›Projekt Sankt Anton‹. Drei große Pakete lagen dort, mit Siegeln wie mit Wunden bedeckt. Es waren nur drei, und jedes Kind kannte die Namen der Absender: Brehmockel, Grumpeter und Wollersein. Brehmockel, der Erbauer von siebenunddreißig neugotischen Kirchen, siebzehn Kapellen und einundzwanzig Klöstern und Krankenhäusern; Grumpeter, der Erbauer von nur dreiunddreißig neuromanischen Kirchen, nur zwölf Kapellen und achtzehn Krankenhäusern; das dritte Paket stammte von Wollersein, der nur neunzehn Kirchen, nur zwei Kapellen, nur vier Krankenhäuser erbaut, dafür aber einen richtigen Dom aufzuweisen hatte. ›Schon gelesen, Herr Leutnant, was in der Wacht steht?‹ fragte der Portier, und ich las oberhalb des hornigen Portierdaumens die Zeile, die er mir hinhielt: ›Heute letzter Termin für Projekt Sankt Anton. Hat unsere Architektenjugend keinen Mut?‹ Ich lachte, rollte meine Zeitung zusammen, ging zum Frühstück ins Cafe Kroner; es klang schon wie uralte, seit Jahrhunderten eingesungene Liturgie; wenn der Kellner in die Klappe zur Küche hinein sagte: ›Frühstück für Herrn Architekten Fähmel wie immer.‹
Hausfrauen, Kleriker, Bankiers - das Stimmengewirr gegen halb elf. Zeichenblock mit Lämmern, Schlangen, Pelikanen; fünfzig Pfennig Trinkgeld für den Kellner, zehn für den Boy, das Grinsen des Pförtners, wenn ich ihm seine Morgenzigarre in die Hand legte, die Post entgegennahm. Ich stand hier, spürte das Beben der Druckereimaschinen an meinen Ellenbogen, sah unten in Kilbs Büro den Lehrling, der in Fensternähe das weiße Falzbein schwang. Ich öffnete den Brief, den der Portier mir gegeben hatte: ›... sind wir in der Lage, Ihnen die Position eines Chefzeichners ab sofort anzubieten; wenn gewünscht, Familienanschluß; garantiert freundliche Aufnahme in die hiesige Gesellschaft. Kein Mangel an Geselligkeiten...‹ So winkte man mit lieblichen Architektentöchtern, bot kosige Landpartien, auf denen junge Männer mit runden Hüten am
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Waldesrand Bierfässer anzapften, junge Damen belegte Brote auspackten und anboten, und da konnte man auf frischgemähten Wiesen ein Tänzchen wagen, während Mütter, die ängstlich die Jahre ihrer Töchter zählten, entzückt von soviel Grazie in die Hände klatschten, und wenn man zum gemeinsamen
Waldspaziergang aufbrach, Arm in Arm, denn die Damen pflegten über Wurzeln zu stolpern, bot sich, da die Distanzen im Waldesdunkel sich unmerklich vergrößerten, Gelegenheit, einen Kuß zu wagen, auf den Unterarm, die Wange, die Schulter, und wenn man dann heimwärts fuhr, im Abenddämmer durch lauschige Wiesen, an deren Rändern sogar Rehe, als wären sie eigens dafür bestellt, aus dem Wald hervorlugten; wenn Lieder aufklangen, die sich von Kutsche zu Kutsche fortpflanzten, dann würde man sich schon zuflüstern können, daß Amor getroffen habe. Wehe Herzen, wunde Seelen trugen die Kutschen heimwärts.
Und ich schrieb eine liebenswürdige Antwort: ›... bin ich gerne bereit, auf Ihr freundliches Angebot zurückzukommen, sobald ich die privaten Studien, die mich noch eine Weile an die Stadt fesseln, beendet haben werde...‹; klebte den Umschlag zu, die Marke drauf, ging zur Fensterbank zurück und blickte in die Modestgasse hinunter: wie ein Dolch blitzte das Falzbein auf, wenn der Junge zum Schwung ansetzte; zwei Hoteldiener luden den Keiler auf einen Handkarren; abends würde ich von diesem Keiler kosten, beim Herrenessen des Sängerbunds deutscher Kehlen, würde ihre Witze anhören müssen, und sie würden meinem Lachen nicht anmerken, daß ich nicht darüber lachte, sondern über sie; ihre Witze waren mir so widerwärtig wie die Soßen, und ich lachte mein Lachen, hier oben am Fenster und wußte immer noch nicht: war es Haß oder Verachtung? Nur eins wußte ich: es war nicht nur Freude.
Pilze in weißen Körben wurden von Gretzens Lehrmädchen neben den Keiler gestellt; schon wog im Prinz Heinrich der Koch die Gewürze ab, schliffen Küchengehilfen die Messer;
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aufgeregte Hilfskellner zupften sich zu Hause vor dem Spiegel die Krawatten zurecht, die sie probeweise umgelegt hatten, und fragten ihre bügelnden Frauen - der Plättdunst gewendeter Hosen erfüllte die Küche - : ›Muß ich dem Bischof den Ring küssen, wenn ich das Pech haben sollte, ihn zu bedienen?‹
Immer noch schwang der Lehrling das weiße
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