Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
lang nicht nur der unmittelbare Vorgesetzte von Stabsfeldwebel MacMillan gewesen war, sondern sie auch stets besonders gefördert hatte. Auch ihre Beförderung zum Stellvertretenden Inspektor (und damit in den gleichen Rang, den er selbst bekleidete) hatte er nachdrücklich und erfolgreich unterstützt. Damit, dass sie ihn nun gegen Ende des Karriere-rennens auch noch überholte, hatte er nun wirklich nicht gerech-11
net. Wenn er auch ihre Tüchtigkeit uneingeschränkt anerkannte, konnte er doch das Gefühl, angeschmiert worden zu sein, nicht verdrängen.
Die auf ihre Beförderung folgenden Monate waren für ihn schwierig gewesen. Er musste sogar den Polizeipsychiater James Paddington aufsuchen. Und er hatte dessen Empfehlung befolgt: vierzehn Tage Ferien auf Barbados gemeinsam mit seiner Frau Rose.
Braun gebrannt, entspannt und mit dem festen Vorsatz, das Kapitel seiner beruflichen Enttäuschung als abgeschlossen zu betrachten, war er nun von dieser Reise zurückgekehrt.
Julien Boniface befand sich erst seit wenigen Minuten wieder zu Hause, als ein Klingeln an der Haustür einen unerwarteten Besuch ankündigte.
Im Haus war es eiskalt, denn vor seiner Abreise hatte Julien die Heizung auf den niedrigsten Stand zurückgedreht. Er ließ Kiersten MacMillan ein und führte sie ins Wohnzimmer, wo sie sich in Mantel und Schal unterhielten, einander unbehaglich auf modernen Sesseln von zweifelhafter Bequemlichkeit gegenübersitzend.
Im Hintergrund spielte leise das Radio. Das war eine von Juliens Marotten. In der Polizeistation war stets ein kleines Radio auf seinem Tisch eingeschaltet. Das ständige Gedudel dort nervte Kiersten. Hier war das natürlich etwas anderes; aber weder Brahms noch Mozart vermochten die Stille zu verdrängen, die bleischwer über diesem Heim lag … Jonathans Kinderzimmer befand sich oben im ersten Stock. Man flüsterte sich zu, dass Rose noch immer jede Woche die Laken von Jonathans Bett wechsle. »Und warum nicht?«, hatte Dr. Paddington dazu befunden. »Wenn es ihr gut tut?« Das Drama lag inzwischen zehn Jahre zurück: Auf einer Waldwande-rung hatte sich der Junge für kurze Zeit von der Gruppe getrennt, um ein Bärenjunges zu beobachten. Die Bärin hatte ihn dabei entdeckt und angefallen. Von den Schreien des Kindes alarmiert, eilte Julien nur wenige Sekunden später herbei, doch es war schon zu 12
spät: Mit zerfetzter Brust verblutete sein Sohn in seinen Armen.
»Lassen Sie sich erst einmal berichten, was ich in Rom erlebt ha-be«, schlug Kiersten vor und hauchte ihre Finger an, um sie zu er-wärmen.
Der Empfang Juliens stand an Frostigkeit der Temperatur im Haus nicht nach. Dennoch ließ er sich trotz seines Grolls von dem Bericht über den Selbstmord Frédéric Delagraves fesseln.
»Clarkson hat mich mit der Aufstellung einer Sondereinheit beauftragt, drei Leute in Vollzeit für achtzehn Monate«, schloss Kiersten. »Und ich kann mir meine Mitarbeiter selbst aussuchen.«
»Und warum jetzt diese Dringlichkeit?«
»Sehr einfach – in dieser üblen Geschichte soll ein Senator mit drinstecken. Das erklärt wohl alles!«
»Ach, war das toll, dieses Barbados«, seufzte Julien. »Gestern um diese Zeit aalte man sich noch am Strand in der Sonne … Wenn Sie auf der Suche nach Mitarbeitern sind, Frau Inspektor, sind Sie allerdings hier an der falschen Adresse!«
»Aber Julien, Sie wissen doch, dass ich immer nur gegen das System gewesen bin, niemals gegen Sie persönlich! Ohne Ihre Hilfe wäre ich in dem Laden überhaupt nie etwas geworden. Und wenn Sie meinen, ich sei hier an der falschen Adresse, dann muss ich Ihnen sagen, dass ich das falsche Ziel für Sie bin!«
»Weiß ich ja alles«, antwortete er. »Trotzdem vielen Dank für das Angebot.«
»Ich brauche Sie doch. Die Sache ist neu für mich, und bei der ganzen Polizei hier hat keiner eine Ahnung von Snuff.«
»Na und, ich doch auch nicht. Warum also dieses Angebot? Und wenn Sie jetzt sagen, ich sei einfach der Beste, schmeiße ich Sie glatt raus!«
»Ich denke nicht im Traum daran, Ihnen zu sagen, Sie seien der Beste«, gab sie mit festem Blick zurück. »Aber ich weiß, dass Sie genauso zäh sind wie ich!«
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Das sonnenverbrannte Gesicht von Julien Boniface verzog sich zu einer Grimasse, die man, wenn man sehr guten Willens war, als Lächeln auslegen konnte.
»Das will ich mal als Kompliment betrachten. Trotzdem: meine Antwort ist ›Nein‹. Und nur zu meiner persönlichen Information: Was soll denn das sein,
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