Zwischen jetzt und immer
Kapitel 1
In ein paar Stunden flog Jason also ab, ins Schlaumeiercamp. Es hieß natürlich anders, aber alle redeten bloß vom Schlaumeiercamp.
»Das müsste alles sein.« Jason stopfte das endgültig letzte Paar Socken seitlich in seinen Koffer. »Liest du mir trotzdem bitte noch mal die Liste vor?«
Ich nahm das Blatt Papier, das neben mir lag, und begann: »Stifte, Notizbücher, Telefonkarte, Kamera-Akkus, Vitamine . . .«
Währenddessen wanderten Jasons Hände über den Inhalt des Koffers, suchten und fanden jeden Gegenstand, den ich aufzählte, überprüften, ob er wirklich alles eingepackt hatte. Überprüften es vorsichtshalber gleich noch einmal. Sich vergewissern, ob etwas tatsächlich stimmt – Jasons Lebensmotto.
»Taschenrechner«, fuhr ich fort. »Laptop –«
»Stopp.« Er hob die Hand, ging zu seinem Schreibtisch, zog den Reißverschluss der schmalen schwarzen Tasche auf, die dort stand, und nickte mir zu. »Mach mal mit Liste Nummer zwei weiter.«
Meine Augen überflogen die Seite, bis sie das Wort LAPTOPTASCHE entdeckten. Ich räusperte mich. »C D-Rohlinge , Spannungsschutzadapter, Kopfhörer . . .«
Nachdem wir LAPTOPTASCHE abgehakt und das Checken der Hauptliste ebenfalls glücklich erledigt hatten – inklusive zweier Unterlisten, KULTURBEUTEL sowie VERSCHIEDENES –, war Jason einigermaßen überzeugt davon, dass er tatsächlich alles eingepackt hatte. Was ihn nicht davon abhielt, noch ein paar Runden durchs Zimmer zu tigern und dabei nachdenklich vor sich hin zu murmeln. Perfekt zu sein ist Arbeit. Schwerstarbeit. Wer sich nicht wirklich anstrengen will, braucht gar nicht erst damit anzufangen.
Jason wusste, was Perfektsein bedeutet. Anders als bei den meisten anderen Menschen war das für ihn kein Ziel, das in weiter oder gar unerreichbarer Ferne lag. Für Jason befand sich Perfektion gerade mal hinter dem nächsten Hügel, so nah, dass man bereits Einzelheiten der Landschaft erkennen konnte. Und es war kein Ort, an dem er sich nur besuchsweise aufhalten würde. Nein, er würde dort leben, im Land der Perfektion. Als Dauerwohnsitz.
Jason war nationaler Mathepreisträger, Vorsitzender des Debattierclubs, zweimal nacheinander wiedergewählter Schulsprecher und in dieser Eigenschaft verantwortlich für ein innovatives Recycling-Programm, das inzwischen auch an anderen Schulen, und zwar im ganzen Bundesland, eingeführt worden war. Er hatte die besten Noten, die ein Schüler an unserer Highschool je bekommen hatte; übersprang seit der siebten Klasse regelmäßig die Einführungskurse, egal in welchem Fach, und wurde gleich bei den Fortgeschrittenen eingestuft; nahm seit der Zehnten an besonderen College-Seminaren teil, die nur hochbegabten Highschool-Absolventen offen stehen; sprach fließend Spanisch und Französisch. Aber er war nicht nur der ultimative Musterschüler, sondern auch sonst vollkommen. In den letzten Sommerferien hatte er als Freiwilliger bei einemsozialen Wohnungsbauprojekt mitgeholfen; er war Veganer, machte Yoga, besuchte jeden zweiten Sonntag seine Großmutter im Altersheim und hatte seit seinem achten Lebensjahr einen nigerianischen Brieffreund, mit dem er sich regelmäßig schrieb. Alles, was er tat, tat er richtig, gut, gründlich. Perfekt eben.
Die meisten finden Typen wie Jason vermutlich nervig oder sogar richtig daneben. Ich nicht. Jason war genau die Art Mensch, die ich an meiner Seite brauchte.
Was ich von der ersten Sekunde an gewusst hatte, als wir uns kennen lernten, zu Beginn der Neunten. Wir hatten zusammen Englisch und sollten eine Gruppenarbeit über
Macbeth
machen.
Jason, ich und die Dritte im Bunde, eine gewisse Amy Richmond, hatten kaum unsere Tische zusammengeschoben, da verkündete Amy, sie habe keine Ahnung von »diesem Shakespeare-Mist«, bettete den Kopf auf ihren Rucksack und schlief ein. Tief und fest.
Jason warf ihr bloß einen kurzen Blick zu und öffnete sein
Macbeth
-Exemplar. »Dann fangen wir mal an«, sagte er.
Zu dem Zeitpunkt war ES noch nicht lange her und ich befand mich gerade in meiner Schweigephase. Hatte Mühe, Worte aufzunehmen. Manchmal fiel es mir sogar schwer, sie überhaupt zu identifizieren. Beim Lesen kamen mir oft ganze Sätze so vor, als wären sie in einer fremden Sprache geschrieben oder stünden rückwärts da. Als ich ein paar Tage zuvor meinen Namen oben auf ein Blatt Papier hatte schreiben müssen, war ich mir beispielsweise nicht einmal mehr sicher gewesen, welche Buchstaben in welcher
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