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Binding, Tim

Binding, Tim

Titel: Binding, Tim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fischnapping
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sicher gewesen, dass ich sie von der Klippe
gestoßen hatte, und auf einmal saß sie da, schlug die Beine unter einem
Resopaltisch übereinander, gescheit und arrogant, als hätte sie sich gerade
mal umgesehen und mich in der Toilette schwimmend entdeckt. Was hatte sie
gemeint mit: »Ich hab kaum was gespürt«? Dass sie auf der Klippe gewesen war?
Das konnte nicht sein. Von da oben ging es fast hundert Meter in die Tiefe.
Selbst wenn sie den Sturz überlebt hätte, wäre sie im Wasser an den Felsen
zerschmettert worden. Und wenn die ihr nicht den Rest gegeben hätten, hätte sie
ein paar Meilen um die Felszunge herum bis zum nächsten Strand schwimmen
müssen. Und wenn sie das alles überlebt hatte, warum war sie dann nicht zur
Polizei gegangen? Keine Frau lässt sich gern von einer Klippe stoßen. Nein,
sie spielte mit mir, hundertprozentig, als wüsste sie etwas, von dem sie
wusste, dass ich es nicht wusste, sie wollte mich kirre machen, aus Spaß an der
Freude. Radfahren war nicht das Einzige, was Audrey und sie gemeinsam hatten.
    Dann war da noch die Frage, von der ich geglaubt hatte,
sie ein für alle Mal geklärt zu haben. Wenn ich nicht Michaela Rump in die
Tiefe gestoßen hatte, wen dann? Jemanden aus dem Dorf? Eine verdrossene
Tagesausflüglerin? Eine Bergwanderin? Nein, meine Klippenspringerin war keine
Wandersfrau. Sie war nicht ausstaffiert gewesen für drei Wochen Eigernordwand,
wie das der durchschnittliche Wandervogel meistens ist. Sie hatte, soweit ich
mich erinnerte, nichts dabeigehabt. Vielleicht hatte sie endgültig Schluss
machen wollen. Warum hätte sie da irgendwas mitnehmen sollen? Das wäre
einleuchtend, wie sie Rotz und Wasser heulend da oben gestanden hatte, in Wind
und Regen, dicht am Klippenrand. Vielleicht hatte ich ihr einen Gefallen getan.
Vielleicht hatte sie deshalb nicht geschrien, ein wenig Protest angemeldet,
womit ich eigentlich gerechnet hatte. Aber nichts da. Sie hatte bloß mit den
Armen gewedelt, und weg war sie. Ich hätte gleich wissen müssen, dass das nicht
Audrey gewesen sein konnte. Audrey wäre nicht still und leise über den Jordan
gegangen. Audreys Schreie hätten die Bürger von Calais zum Leben erweckt, über die sich unsere Kunstlehrerin, Miss Prosser,
jede Woche auslässt. Letzten Monat haben wir eine Gefängnisversion von den Bürgern von Calais angefertigt; die Schließer von Scrubs haben wir das Werk getauft, wozu
wir ein Foto verwendeten, auf dem Bernie und drei seiner Kollegen rings um
einen Felsen aus Pappmaschee posierten. Ich selbst hielt es nicht für besonders
gelungen, aber laut Miss Prosser habe ich ein Naturtalent für Formen und ein
ausgeprägtes räumliches Vorstellungsvermögen. Ich hätte lieber irgendwas mit
Miss Prosser gemacht, wie sie auf egal was posiert, aber das gehörte nicht zu
ihrem Aufgabenbereich. Vielleicht würde ich Michaela Rump bitten, so nett zu
sein, wenn ich draußen war. Ich sah sie förmlich schon, nur mit einem Umhang
und Stiefeln bekleidet und mit ein paar Ketten um den Hals. Oder vielleicht
bloß mit den Ketten und Stiefeln. Auch Michaela Rump wäre nicht still und leise
von der Klippe gekippt. Aber sie war an dem Tag da oben gewesen, an dem Sonntag
oder dem Samstag davor, das hatte ihr Mann mir jedenfalls erzählt. Wie am
Piccadilly Circus war es an dem Wochenende oben auf dem Kliff zugegangen. Wenn
ich das geahnt hätte, hätte ich es niemals versucht. Ich hätte gar nicht erst
den Streit mit Audrey provoziert, und sie hätte Miranda nicht umgebracht. Aber
ich dachte jetzt nicht an Miranda. Michaela, Michaela Rump war es, die mir
nicht aus dem Kopf gehen wollte. Wann war sie dort gewesen? Vor mir, nach mir, zusammen mit mir?
    Ich lag die ganze Nacht auf der Pritsche und starrte an
die Decke, ließ alles noch mal Revue passieren: wie ich mich in dem
Ginsterbusch versteckte, das aufblitzende Gelb, die flatternde Öljacke, die
Gestalt, die mit dem Rücken zu mir stand, sich die Augen ausheulte, so laut,
als würde ihr gleich die Lunge platzen. Nein, das stimmte nicht. Sie hatte
nicht geweint. Sie hatte vielmehr gerufen. Ja, genau. Sie war aufgewühlt
gewesen, aber sie hatte gerufen, nicht geweint, irgendwas gerufen, als ich auf
sie zulief. Aber was? Ich hatte in dem Augenblick nicht hingehört, weil ich
dachte, Audrey würde da stehen, und wenn sie irgendwas gerufen hätte, dann
wahrscheinlich meinen Namen und dass alles den Bach runterging, aber ich hatte
es nicht wissen wollen. Ich hatte mich auf den Augenblick

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