Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Binding, Tim

Binding, Tim

Titel: Binding, Tim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fischnapping
Vom Netzwerk:
konzentriert, darauf,
flink und lautlos zu ihr zu rennen, ihr den Schubs zu verpassen, der mein Leben
für alle Zeit verändern würde. Wenn ich bloß dem Laut, den sie ausgestoßen
hatte, Gestalt geben könnte, ihm ein paar Vokale verpassen, wenn ich mich bloß
erinnern könnte. Was war es, ein Name? Ein Wort, ein Ausdruck, der für sie
alles zusammenfasste? Was würde man der Welt sagen, kurz bevor man sich das
Leben nimmt? Besten Dank auch. Dürfte ich's bitte noch mal versuchen? Die Frau,
die ich erwischt hatte, war aus einem bestimmten Grund da oben gewesen, genau
wie ich aus einem bestimmten Grund da oben gewesen war. Vielleicht hatte sie
den Tod im Sinn, genau wie ich. Vielleicht auch nicht. Aber ich musste es wissen.
Schlafende Hunde soll man nicht wecken, heißt es, aber ich konnte nicht anders.
Der gute alte Rodin hatte die Bürger verewigt, das, was ihnen widerfahren war,
die Demütigung, die sie erlitten hatten. Tja, das konnte ich nicht, aber ich
musste dieser Frau wieder Leben einhauchen, sie wieder da hinstellen, wo sie
einmal gestanden hatte, sagen, ja, so sah sie aus, so war sie. Warum mir das
wichtig war, konnte ich nicht sagen. Sie bedeutete mir nichts, aber gerade
deswegen bedeutete sie mir alles.
    Drei Wochen ging das so, während ich auf den großen Tag
wartete, und die ganze Zeit spürte ich, wie dieses Rätsel sich in mich
hineindrückte, wie ein Knubbel in einer Matratze. Nicht dass ich viel Zeit für
mich gehabt hätte, Besuche vom Direktor, Besuche von meinem Anwalt, der
Gefängnisgeistliche, der sich gar nicht beruhigen konnte und mir den Rücken
tätschelte, meinte, ich sollte meinem Glück danken und nicht verbittert sein.
Bernies Frau backte einen Kuchen für mich. Ich hatte nicht mal gewusst, dass er
eine Frau hatte. In meiner letzten Kunststunde schenkte Miss Prosser mir einen
Strauß Veilchen, gab mir einen raschen Kuss auf die Wange und sagte, weiter so.
    »Wer weiß, vielleicht werden Sie mal berühmt«, sagte sie
und setzte den typischen Blick einer Frau auf, die sich ranschmeißt.
    »Ich bin schon berühmt, Süße. Du willst dich bloß mit
ranhängen«, sagte ich und klatschte ihr die Veilchen wieder in die Hand.
Ungehobelt, ich weiß, aber das ist die einzige Sprache, die solche Frauen
verstehen.
    Und dann auf einmal war es vorbei. Ich war nicht mehr das
Dreckschwein Nummer eins im Knast, ich war der ehrenwerte Al Greenwood, ein
Mann, dem Unrecht widerfahren war. Auf einmal war es Freitagmorgen, und ich
stand draußen, die Begnadigungsurkunde in der Gesäßtasche, Mums alten Koffer
in der Hand, während mir mein letztes Gefängnisfrühstück wie ein Fettklumpen im
Magen lag. Es war zehn Uhr, die Sonne hatte ihr Tagwerk bereits begonnen, die
Luft umspülte mich, forderte mich auf, meine Klamotten auszuziehen, zu spüren,
wie gut sie tat. Im Knast ist der Sommer einfach schrecklich, bloß stickige
Hitze und ranziger Schweiß, hier dagegen war es, als stünde ich in einer neuen
Haut, es war toll, ein Mann zu sein, toll, am Leben zu sein, die ganze Welt
warm und einladend. Ich konnte sie beinahe greifen. Ein Auto kam stotternd
die Straße herunter, einer von diesen altmodischen schwarzen Citroëns, in denen
General de Gaulle ständig beschossen wurde. Er holperte auf den Bürgersteig
gegenüber, eierte einmal im Kreis und kam schließlich direkt vor meinem
rechten Fuß zum Stehen. Die gute alte Schnüffelnase, Alice Blackstock, saß
hinterm Lenkrad, einen Jimi-Hendrix-Sternenbanner-Hut auf dem Kopf, eine rosa
Federboa um den Hals geschlungen. Ihre Finger ragten aus schwarzen Spitzenhandschuhen
hervor. Sie sah nicht einen Tag älter aus als neunundneunzig. Sie kurbelte die
Scheibe runter, und der Qualm waberte mir ins Gesicht. Keine Frage, was sie
sich reingezogen hatte.
    »Hallöchen, Nachbar«, sagte sie. »Entschuldigen Sie die Verspätung.
Die Stadt war dicht. Sind Sie mir eben vors Auto gesprungen?« Sie lachte. Ich
hatte seit Jahren nicht mehr so ein Lachen gehört, ohne Scheiß. Ich lächelte.
Den Hendrix-Song, der im Auto lief, kannte ich auch.
    »Mensch, Mrs B. Das nenn ich eine Überraschung.«
    »Nach der langen Zeit hinter Gittern haben Sie bestimmt
auf jemanden gehofft, der jünger aussieht. Das ist leider das Beste, was dieser
Körper zu bieten hat.« Sie strich ihren Rock glatt. Sie hatte gute Beine für
eine betagte Rentnerin. Das kam vom vielen Yoga.
    »Ich habe auf überhaupt niemanden gehofft, Mrs Blackstock,
zumindest auf niemand so Elegantes wie Sie.«
    Alan Ladd

Weitere Kostenlose Bücher