Binding, Tim
Buchstaben.
EILEEN.
Ich hatte den Namen schon mal gehört, noch vor gar nicht
langer Zeit, als hinge er frisch in der Luft, ich hörte förmlich im Hinterkopf,
wie jemand ihn aussprach. Eileen. Ein N, ein I, ein L und drei E. Wieder ein
Dreieck. Eileen. Ihr Name war Eileen, und sie war an dem Tag dort gewesen, in
Wind und Regen, hatte Eumel in ein Handy gesagt, hatte eine Thermosflasche und
eine Bibel dabeigehabt, auf dem Weg hinauf zur Beule. Und sie hatte gelacht
oder geweint, vielleicht von beidem etwas, war trotz des Wetters fest
entschlossen gewesen, nach oben zu gehen. Und dann wusste ich, wer sie war, sah
es klar vor mir, sah, wie sie zum Kliff hinaufeilte, weil sie da oben sein
wollte, da oben sein musste, genau an dem Tag, um jeden Preis. Sie hatte kein
Handy in der Hand gehabt, sondern einen Brief. Sie hatte keine Thermosflasche
in ihrer Tasche gehabt, oder falls doch, dann war kein Kaffee drin gewesen.
Sondern Asche. Menschliche Asche. Eumel hatte sie gesagt, nicht in ihr Handy,
zu jemandem am anderen Ende, sondern vor sich hin, zu dem Brief, den sie las,
dem Brief, den ihr Sohn ihr sechs Jahre zuvor geschrieben hatte, genau an dem
Tag. Sie wollte ihn beerdigen, nein, nicht beerdigen, aber seine Asche oben auf
der Beule verstreuen, ihn fortan jedes Jahr dort besuchen. Sie hatte seine
Asche sechs Jahre lang aufbewahrt und dann endlich den Mut gefunden, da
hinaufzugehen, die Asche an der Stelle zu verstreuen, wo er so viele Stunden
verbracht hatte, wo Carol und er ihre gemeinsame Zukunft geplant hatten. Ich
hatte seine Mum von der Klippe gestoßen, seine Mum, die ihn geliebt hatte, so
wie er sie, Robin, ihr einziger Sohn, wie ich der einzige Sohn meiner Mum
gewesen war. Was, wenn das da oben meine Mum gewesen wäre, die um mich weinte?
Sie hatte weiß Gott oft genug meinetwegen geweint, und dann auf einmal war es
zu spät gewesen, und ich konnte nichts mehr wiedergutmachen. So wie es jetzt zu
spät war, um das mit Eileen wiedergutzumachen. Zu spät für alles.
Plötzlich verließ mich alle Kraft. Wie sollte ich etwas
mit Emily anfangen, wo ich wusste, was ich wusste, wusste, was ich getan hatte?
Wie sollte ich sie anlächeln und ihre Hand nehmen, gut zu ihr sein, wie ich es
sein wollte, Pläne schmieden, eine Zukunft haben? Es gab für mich keine Zukunft
mit Emily, nicht nach alldem. Vielleicht hatte es nie eine gegeben. Okay, es
war nicht fair, nicht fair mir gegenüber, dass ich sie so spät gefunden hatte,
und auch nicht fair ihr gegenüber, dass sie mich überhaupt gefunden hatte.
Wenn ich sie unter normalen Umständen kennengelernt hätte, am Strand oder auf
einer Party oder sogar in einer Kunstgalerie, wo ich meine Fische ausgestellt
hätte, wäre alles anders gewesen. Aber ich hatte sie im Gefängnis
kennengelernt. Klar, wenn ich nicht ins Gefängnis gekommen wäre, wenn ich
nicht all das getan hätte, was ich getan hatte, hätte ich sie gar nicht erst
kennengelernt, und ich war froh, ihr begegnet zu sein, verdammt froh. Aber
jetzt war alles vorbei, noch ehe es überhaupt angefangen hatte. Ich musste es
ihr sagen, ehrlich zu ihr sein, so wie sie ehrlich zu mir gewesen wäre, in dem
Leben, das wir nie haben würden. Es war wahrscheinlich besser so, weil ich
sowieso alles kaputt gemacht hätte, und sie gleich mit, und das hatte sie nicht
verdient.
Statt mich also fertig zu machen, zu duschen und zu
rasieren, ein schickes frisches Hemd anzuziehen, setzte ich mich hin und
schrieb einen Brief, einen langen Brief, erzählte ihr von Robin und Robins Mum
und davon, was ich getan hatte, erzählte ihr alles, erzählte ihr, dass es mir
leidtat, dass ich sie toll fand, nein, nicht bloß toll, dass ich sie wunderbar
fand und dass es mir leidtat, dass ich ihr Herz hatte höherschlagen lassen, es
sogar ein wenig angeknackst hatte, aber dass ihres zu jung war, um ganz zu
brechen. Und ich schrieb, so unendlich leid es mir auch tat, eines würde ich
auf gar keinen Fall bedauern, nämlich sie kennengelernt zu haben, denn das sei
das Beste gewesen, was mir seit Langem passiert war, deshalb sei ich traurig
und froh zugleich, und ich fügte hinzu, dass ich ihr alles Gute wünschte und
dass ich ihr, falls sie es ertragen könnte, gern den ersten Fisch schenken
würde, den ich gemacht hatte, dass ich weiter welche machen würde, im Knast,
komme, was wolle.
Nachdem ich den Brief eingeworfen und eine Tube Klebstoff
gekauft hatte, packte ich das Scrabble-Set zusammen, nahm einen Spaten und ging
hintenrum zur Beule
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