Biografie eines zufälligen Wunders - Roman
gelernt, alles, was ihre Patienten den lieben langen Tag daherredeten, zu ignorieren. Später bereuten die Schwestern ihren Fehler, denn ihre Zulagen waren ihnen wegen Nachlässigkeit gestrichen worden.
Ich folgte Lena auf Schritt und Tritt und schrieb jedes ihrer Worte nieder. Ich wusste, dass mir wenig Zeit blieb. Ich frage sie:
»Wer bist du?«
Lena antwortete mit einem Lachen:
»Ich bin ein Mensch der fünften Generation.«
»Verlässt du mich?«
Lena antwortete:
»Du wirst auch ohne mich ganz wunderbar zurechtkommen.«
»Werde ich nicht!«
»Wirst du doch.«
Pawlo, der Yogi, schaute ein paarmal vorbei. Lena und er saßen auf der Parkbank und hielten Händchen. Der Yogi hatte abgebaut und abgenommen, war ungepflegt und wirkte verwahrlost.
»Du kommst bald raus«, sagte er zu ihr.
»Mmh«, antwortete sie.
»Du bist ja nicht verrückt. Das war einfach ein Nervenzusammenbruch. Das geht vorbei. Das passiert vielen Menschen.«
»Mmh«, wiederholte Lena.
»Du musst einfach auf dich selber achten. Du solltest dich selbst retten, und nicht andere. Die anderen brauchen keine Hilfe, das habe ich dir früher schon gesagt.«
Lena murmelte immer wieder Unverständliches. Dann zog der Yogi ab. Sein ehemals durchtrainierter, geschmeidiger Körper war nun gebückt, er war kaum wiederzuerkennen.
Am Tag vor ihrem Verschwinden hatte Lena ihm einen Brief geschrieben, in dem sie ihn um Verzeihung bat und ihm alles Gute wünschte. Darin stand:
»Vor langer Zeit hat man mir einmal erzählt, dass es das Gute und das Böse gibt und dass ein anständiger Mensch gut sein muss. Das ist seine Pflicht. Ich habe beschlossen, so zu sein. Ein guter Mensch zu sein. Und so habe ich darauf gewartet, meine Güte endlich beweisen und einsetzen zu können. Doch die Zeit verging und nichts geschah. Ich habe nichts Gutes getan. Im Gegenteil. In meinem Bestreben, Gutes zu tun, habe ich Böses angerichtet. Und jetzt frage ich mich: Was ist das Gute überhaupt? Wir wissen, was das Böse ist, aber was ist das Gute?«
Pawlo, der Yogi, zeigte den Brief niemandem, weil er Angst hatte, sein Inhalt könnte Lenas Entlassung gefährden. Er würde noch heute auf sie warten, wenn Lena nicht eines Tages verschwunden wäre.
Als es passierte, kam er zu mir, um von mir die Wahrheit zu erfahren. Er brachte viele neue Hefte, Bleistifte, Äpfel und Süßigkeiten mit, die Jacha später stibitzte.
Pawlo, der Yogi, war fest davon überzeugt, dass Lena in der Zokoliwka zu Tode gequält worden war und dass das Verbrechen nun vertuscht wurde. Dass ihr toter Körper jetzt irgendwo im Park vergraben läge und alle Spuren verwischt wären. Er schrieb sogar eine Beschwerde an die Polizei, in der er betonte, dass die Umstände von Lenas Verschwinden sehr merkwürdig waren und eine Untersuchung eingeleitet werden müsse. Denn wenn jemand aus einer geschlossenen Anstalt verschwindet, drängen sich die Fragen und Antworten von selbst auf. Um die Zokoliwka rankten sich tatsächlich viele schreckliche Gerüchte. Hier kamen Patienten häufig unter ungeklärten Umständen ums Leben. Doch bislang ist noch niemand einfach so verschwunden, das möchte ich betonen. Das habe ich Pawlo, dem Yogi, auch gesagt:
»Lena ist nicht tot, sie ist am Leben.«
»Wo ist sie?«
Der Yogi zitterte vor Anspannung am ganzen Körper. Er stand selbst kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Ich wusste nicht, ob ich es ihm erzählen sollte.
»Verstehen Sie«, sagte ich, »Lena hat selbst beschlossen, diesen Ort zu verlassen. Ich habe sie gebeten, noch ein bisschen länger bei uns zu bleiben, aber sie wollte nicht.«
»Wie konnte sie hier rauskommen?! Die Zokoliwka ist besser bewacht als ein Gefängnis!«
»Sie ist nicht rausgekommen.«
Der Yogi seufzte tief. Er war verzweifelt und voller Trauer. Er war sehr müde. Ich riet ihm, nach Hause zu gehen und sich auszuschlafen.
»Erzählen Sie es mir«, flehte er mich an, »ich kann nicht mehr so weiterleben!«
Er tat mir sehr leid. Ich dachte, eine unglaubwürdige Wahrheit sei besser als eine glaubwürdige Lüge. Deshalb sagte ich:
»Lena kann fliegen. Sie ist von hier weggeflogen.«
»Ich bitte Sie! Reden Sie keinen Blödsinn!«
Er sprang auf und bewegte sich schnell, fast im Laufschritt, in Richtung Ausgang. Ich schaute ihm nach. Er tat mir wirklich sehr leid.
Das Krankenhauspersonal und später auch die Polizeibeamten befragten mich noch viele Male. Ich sagte ihnen allen das Gleiche: Ich weiß von nichts, ich habe nichts gesehen. Sie
Weitere Kostenlose Bücher