Lucian
EINS
Der Mittwochabend gehörte uns, Janne, Spatz und mir.
Seit ich ein kleines Mädchen war, verbrachten wir drei diesen Abend in der Woche gemeinsam und abgesehen von den Ferien auch immer am selben Ort: zu Hause, in der Hamburger Rainvilleterrasse 9.
Die Idee kam von Spatz, Jannes Lebensgefährtin. Kurz nachdem sie bei uns einzog, ernannte Spatz den Mittwochabend zur Ladys Night in und besorgte für diesen Anlass sogar eine Krone. Es war eine Plastikkrone mit bunten Strasssteinchen aus der Spielzeugabteilung des Kaufhauses, in dem Spatz damals jobbte.
Spatz war es auch, die die Regeln für unsere Ladys Nights festlegte: Immer der Reihe nach durfte eine von uns die Mittwochskrone tragen und bestimmen, wie wir den Abend verbringen würden. Die einzigen Bedingungen waren: Es musste etwas sein, was wir zusammen machten, und es durfte nichts kosten.
Ich war vier Jahre alt, als wir unsere erste Ladys Night in veranstalteten und ich auch als Erste die Krone aufsetzen durfte. Ich fühlte mich tatsächlich wie eine Königin und ernannte Spatz und Janne zu meinen Zofen. Janne musste mein Lieblingsessen, Crêpes mit heißer Schokoladensauce, zubereiten. Spatz wies ich an, Fabeltiere zu zeichnen, Drachen, Einhörner und Greifen, die wir anschließend gemeinsam ausmalten.
Irgendwann kam die Krone abhanden oder wurde einfach nichtmehr aufgesetzt. Aber die Ladys Night blieb und wurde mit den Jahren zu einem Ritual, auf das wir nur verzichteten, wenn etwas Ernsthaftes dazwischenkam.
Inzwischen war ich sechzehn und diesen Mittwoch war meine Mutter Janne an der Reihe, über die Ladys Night zu bestimmen. Das Motto des Abends lautete: ausmisten.
Zuerst hatten Spatz und ich laut aufgestöhnt, als Janne den riesigen Schrank auf unserem Dachboden öffnete, aber Janne hatte auf ihre imaginäre Krone getippt und verkündet: »Ein bisschen Vergangenheit loswerden kann nie schaden. Also keine Widerrede, Ladys! Ran an die Klamotten.«
Draußen tobte ein Herbststurm. Wie mit Eisfingern trommelte er an die Scheiben, doch hier oben unter dem Dach war es warm und mittlerweile saugemütlich. Janne hatte Kerzen angezündet, aus den Lautsprechern ertönte die Mondscheinsonate von Beethoven, Jannes Lieblingskomponisten, und der Duft von frischem Apfelstrudel zog aus der Küche bis zu uns hinauf.
Der Dachboden nahm die gesamte obere Hälfte unserer Wohnung ein, eine geschwungene Wendeltreppe trennte ihn von den unteren Zimmern. Die alten Holzdielen hatte Dad damals noch abgeschliffen.
Wir alle liebten diesen Raum. Er war unser Familienzimmer, das offizielle Wohnzimmer nutzten wir eigentlich nur, wenn Besuch kam. Hier oben steckte etwas von jedem von uns. Ich hatte mir das große Tagesbett mit den vielen Kissen gewünscht, auf dem wir schon unzählige Mittwochabende mit unseren Lieblingsfilmen verbracht hatten. Die Zimmerlinde, die mittlerweile bis zur Dachschräge hochgewachsen war, hatte Janne bei meiner Geburt als winziges Pflänzchen gekauft und die große Glasvase vor dem Fenster bestückte sie jede Woche neu mit Blumen. Von Spatz waren der alte Plattenspieler und das Regal mit der riesigen Plattensammlung. Unsere Möbel, diezum großen Teil von Antikflohmärkten stammten, hatten Spatz und Janne gemeinsam aufgestöbert, wobei Janne das Herunterhandeln der Preise und Spatz die anschließende Aufarbeitung übernahm.
Das einzige Erbstück war der Sekretär von meiner Urgroßmutter Moma, an dem Janne früher ihre Gutachten geschrieben hatte.
Neben dem Sekretär hing ein Vogelbauer an einer schweren Messingkette herab. Hier wohnten John Boy und Jim Bob. Meine Mutter hatte die beiden Wellensittiche von einem ehemaligen Klienten geschenkt bekommen. Mit ihren dreizehn Jahren waren sie mittlerweile reife Herren und Janne sorgte rührend für sie. Spatz dagegen hasste es, wenn Tiere hinter Gittern eingesperrt wurden. Sie nannte unsere Vögel deshalb die Knastbrüder, was ihr jedes Mal einen bösen Seitenblick von meiner Mutter bescherte.
Jim Bob hatte seinen Schnabel unter den Flügel gesteckt und die Federn aufgeplustert, während John Boy neugierig auf uns herabsah, wie wir vor dem Berg aus altem Kram hockten und uns darum stritten, was wir entbehren – oder besser gesagt nicht entbehren – konnten.
»Nicht!«, kreischte Spatz aus vollem Hals. Sie machte einen Hechtsprung und versuchte, Janne einen grinsenden Gummizwerg mit einer blauen Mütze aus der Hand zu reißen, den meine Mutter gerade in der Kiste mit der Aufschrift »Goodbye
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