Bis ich bei dir bin
habe ich nicht gemeint …«
»Was dann? Wollen Sie, dass ich sie vergesse?« Meine Haut prickelt.
»Nein, natürlich nicht. Ich denke nur, dass Viv das Beste für dich …«
»Was wissen Sie schon, was Viv wollen würde? Sie haben Sie ja nicht einmal gekannt!«
Der Hund möchte mir die Hand lecken, aber ich reiße mich los und knalle die Tür hinter mir zu. Ich kann es nicht fassen, dass meine Seelenklempnerin meiner toten Freundin Worte in den Mund legt. Einen Häuserblock weit stürme ich über den Gehweg, dann noch einen, aber bald fängt mein schlimmes Bein an zu stechen, und meine Augen brennen wieder. Ich verlangsame meine Schritte und versuche, mich zu erinnern, wie man atmet – selbstständig. Mir ist schleierhaft, was ich als Nächstes tun, wohin ich gehen soll. Ich schließe die Augen und stelle mir vor, was Viv gewollt hätte. Wenn sie hier wäre, würde sie es mir sagen …
DREI
V ielleicht stellt der Herbst sich doch noch dieses Jahr ein. Nachdem ich stundenlang durch die Stadt gestreift bin, stehe ich plötzlich wieder an der Straßenecke und wünschte, ich hätte eine Jacke mitgenommen. Es ist elf Uhr abends, beinahe genau die Zeit, zu der es passiert ist. Der Mond steht hell am Himmel und bescheint die Fotos von Viv, von denen ich meine Augen nicht abwenden kann. Es ist bloß ein Haufen Fotos in Plastikfolie, aber sie sieht darauf so lebendig aus. So wirklich , als wäre sie nur verreist, und wenn sie zurückkommt, wird alles nur ein Traum gewesen sein. Ein Albtraum.
Ich stehe vor dem Strommast, die Arme wärmend um mich geschlungen. Bei meinem Glück wird wahrscheinlich gleich Reed auftauchen und mich tadeln, weil ich mich zu dieser Urzeit auf dem Schulgelände aufhalte, aber ich musste einfach herkommen. Mir ist nicht ganz klar, warum gerade dieser Zweimonatszeitraum so von Bedeutung ist, aber genauso gut könnte ich wohl fragen, warum jede Sekunde, die seit dieser furchtbaren Nacht vergangen ist, von Bedeutung ist. Am Rand des Gebüschs liegt ein großer Stein, auf den ich mich fröstelnd setze. Wenn Viv hier wäre, würden wir uns eine Zigarette teilen und unsere Hände gegenseitig unter unsere Klamotten stecken, um uns warm zu halten. Ich lächele bei dem Gedanken und verliere mich in der Vorstellung von ihrer zarten Haut – bis mir aufgeht, dass wir garantiert nicht an dieser blöden Ecke herumschlottern würden, wenn Viv bei mir wäre. Ich drücke die Handballen in meine Augenhöhlen.
Reifen quietschen in der Ferne, und ich sehe Scheinwerferlichter die Straße entlanggleiten. Das Auto biegt um die Ecke und überfährt die rote Ampel. Es schlittert auf die falsche Spur und kommt direkt auf mich zu. Jemand kreischt. Ich schließe die Augen. Ein Windstoß peitscht mein Gesicht, Abgase steigen mir in die Nase …
Das Auto saust durch den Regen. Die Ampel vorn ist grün. Ich stecke ihr eine Zigarette zwischen die Lippen, aber das Zippo rutscht mir aus der Hand und landet irgendwo bei ihren Füßen. Mit einem ärgerlichen Lachen nimmt sie die Hand von meinem Oberschenkel und angelt danach – die Ampel schaltet auf Rot. Sie tritt auf die Bremse, ich packe das Steuer, der Regen läuft schräg über die Windschutzscheibe. Ich höre ihren Schrei nicht mehr.
Ich mache die Augen auf. Die Rücklichter sind jetzt ganz klein und entfernen sich bis zur Unsichtbarkeit. Eine Bierdose hüpft dreimal über den Asphalt und bleibt mitten auf der Straße liegen, bevor ich wieder ausatme. Freitagabendsause.
Ich lehne mich an den Mast, verborgen in dem Schatten, den er im Mondlicht wirft. Der Wind frischt auf und schneidet durch meine Kleider. Die Straße liegt jetzt verlassen da, aber ich starre blinzelnd auf die Stelle, wo das Auto verschwunden ist. Ich hatte gehofft, es würde gegen den Mast knallen und mich ebenfalls umbringen.
Scheiße, was ist nur mit mir los?
Ich gehe vor den Teddybären, Botschaften und verwelkten Blumen auf und ab.
Vielleicht hat Mike recht, vielleicht sollte ich das alles wirklich abnehmen. Eine Gedenkstätte wird sie mir nicht wieder zurückbringen. Oder mich von meiner Schuld lossprechen.
Mein ganzer Körper schmerzt vor Erinnerung. Ich sehne mich verzweifelt danach, mit ihr zu reden. Sie würde verstehen, wie ich mich fühle – das war von Anfang an so. Meistens wussten wir, was der andere gerade dachte. Ich konnte ihre Sätze für sie beenden, und sie ahnte meine Wünsche voraus. Ich weiß noch, wie wir einmal im Coffeeshop waren und sie mir vor der Theke tief in die
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