Bis unter die Haut
einzigen Kriterium aussucht: Verdeckt sie ihre Narben?
Dann gibt es da noch das Problem mit der Schmutzwäsche. Schließlich kann sie die Sachen nicht einfach wie früher in den gemeinsamen Wäschekorb werfen. Vor Kurzem musste sie eine ihrer blutbefleckten Blusen im Park vergraben. Es ist viel zu riskant, solche Sachen herumliegen zu lassen. Der Verlust der Bluse hatte ihr nichts ausgemacht, aber es war ein widerliches Gefühl gewesen, mit bloßen Händen im Dreck zu graben. Als sie sich später auf den Nachhauseweg machte, glaubte sie zu sehen, wie ein Rottweiler mit der Bluse spielte.
Willow hört das Telefon klingeln. Um diese Zeit ruft Markie meistens an. Ohne nachzudenken, greift sie schnell hinter sich und dreht das Wasser in der Dusche an.
»Willow?«, ruft Cathy. »Telefon für dich! Markie.«
Sie streckt den Kopf aus der Badezimmertür. »Sorry, kann grade nicht. Bin unter der Dusche!«
Sie lässt das Wasser weiterlaufen, zieht ihre Jeans und das Oberteil aus, setzt sich auf den Badezimmerboden und verteilt etwas von der antiseptischen Salbe auf einem besonders übel aussehenden Schnitt.
Es dauerte eine Weile, mindestens zehn Minuten, bis sie endlich mit dem Verarzten ihrer Wunden fertig ist.
»Willow?«, ruft David. »Essen!«
»Ich komme«, ruft sie zurück und stellt die Dusche ab. Sie zieht sich wieder an und zuckt zusammen, als ihre Jeans an der Salbe kleben bleibt. Es wäre natürlich viel sinnvoller, die Wunden zu verbinden, aber das würde man unter ihrer Kleidung sehen.
»Hey.« Sie versucht, einen aufgeräumten Eindruck zu machen, als sie die Küche betritt.
»Wahnsinn. Wie hast du denn deine Haare so schnell trocken gekriegt?« Cathy lächelt sie an.
»Oh, ähm, ja … ich hab mir eine Duschhaube übergezogen, damit sie gar nicht erst nass werden.« Willow erwidert das Lächeln, obwohl es sie einige Mühe kostet. Allein der Gedanke, sich hinzusetzen und zu Abend zu essen, macht sie schon fertig. Denn das ist der Moment des Tages, in dem es sich nicht vermeiden lässt, mit dem einzigen anderen Überlebenden ihrer Familie konfrontiert zu werden.
So sollte das nicht sein. Der Anblick ihres Bruders müsste eigentlich der einzige Trost in ihrem ansonsten trübseligen Leben sein, aber so ist es einfach nicht. Weil diese regnerische Nacht im März nicht nur das Leben ihrer Eltern ausgelöscht hat. In gewisser Weise hat Willow in jener Nacht auch ihren Bruder verloren, so als hätte er mit ihnen im Wagen gesessen. Dieses Gefühl begleitet sie auf Schritt und Tritt.
»Und, wie war’s heute in der Schule?«, fragt David, als sie sich setzt. Cathy reicht ihr einen Pappbehälter mit kalten Sesamnudeln. Heute Abend gibt es also Chinesisch.
»Gut.« Willow füllt sich seufzend etwas von den Nudeln auf den Teller. Sie weiß, dass ihre Antwort zu dürftig ist, dass David einen kompletten und lückenlosen Tagesbericht erwartet, aber sie ist es so leid, ihn anzulügen, sie hat einfach keine Kraft mehr dazu. Sie starrt auf ihren Teller. Die Nudeln sehen aus wie Würmer.
»Aha. Mit gut kann ich ehrlich gesagt nicht so viel anfangen. Erzähl doch mal, was ihr im Unterricht gerade durchnehmt. Hat neulich nicht eine Französischklausur angestanden? Wie ist die gelaufen?«
Eine Klausur? Willow weiß über Französisch nur, dass sie in dem Kurs das Mädchen mit dem Striemen auf dem Arm gesehen hat – das und natürlich, dass sie den Unterricht verlassen hat, um ihrer außerlehrplanmäßigen Beschäftigung nachzugehen.
Aber das kann sie David kaum erzählen.
Ach ja, die Klausur … Willow fällt wieder ein, dass sie neulich eine geschrieben haben. Wahrscheinlich hat sie David davon erzählt, als er sie beim Abendessen mal wieder intensiv nach der Schule ausgefragt hat.
»Wir … Ich hab sie noch nicht zurückbekommen. Zumindest hab ich alle Fragen beantwortet.« Was zufällig stimmt, aber in Anbetracht der Tatsache, dass sie sich so gut wie gar nicht vorbereitet hatte, pures Glück gewesen ist.
»Gut.« Er nickt nachdenklich. »Und wie sieht es in den anderen Fächern aus? Irgendetwas Außergewöhnliches, worüber ich Bescheid wissen sollte?«
Seufz.
Willow wäre es am liebsten, Cathy würde ihn unterbrechen und das Thema wechseln, aber sie ist damit beschäftigt, das Baby mit einem ekelhaft aussehenden Brei zu füttern, sodass Willow nichts anderes übrig bleibt, als ihm zu antworten.
»Nein – das heißt, ich muss einen Essay über ein Thema aus diesem Buch von Charles Bulfinch schreiben … Du
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