Bissgeschick um Mitternacht
ausgelösten Katastrophenalarmen.« Der Nachrichtensprecher der staatlichen Fernsehanstalt sah kurz betroffen in die Kamera. Neben ihm erschien ein Bild vom Bindburger Rathaus. »In den frühen Abendstunden gab der meteorologische Dienst zunächst eine Orkanwarnung für die Region heraus, der nur wenige Stunden später eine Warnung vor einer Flutwelle auf der Bindau folgte«, fuhr der Nachrichtensprecher fort. »Aus bislang ungeklärten Gründen trafen jedoch weder der Orkan noch die Flutwelle in Bindburg ein. Bis auf eine alte gusseiserne Brücke, die am südlichen Stadtrand über die Bindau führte und in der Nacht einstürzte, überstand die Region die Nacht ohne weitere Schäden. Ein Sprecher des meteorologischen Instituts sagte, man stünde vor dem größten Rätsel seit Beginn der Wetteraufzeichnung. Ein technischer Fehler bei den Aufzeichnungen könne nach genauer Überprüfung ausgeschlossen werden, so der Sprecher.« Der Nachrichtenansager sah abermals in die Kamera und machte ein Gesicht, als stünde er selbst vor einem großen Rätsel.
Doch die Besitzer des Fernsehers, der im letzten Reihenhaus im Lindenweg Nummer 23 im Wohnzimmer der Familie Tepes stand, würdigten den mimischen Einsatz des Nachrichtensprechers nicht. Was daran liegen konnte, dass keiner der Bewohner vor dem Fernseher saß. Es hing auch keiner vor dem Fernseher.
Das Wohnzimmer der Familie Tepes war an diesem Tag verlassen. Denn dieser Tag war ein besonderer Tag. Es war der Geburtstag von Silvania und Dakaria Tepes. (Zuerst hatte natürlich Silvania Geburtstag und sieben Minuten später Daka.) Aus diesem Grund befand sich die gesamte Familie einschließlich der geladenen Gäste im für eine ordentliche Geburtstagsparty stimmungsvollsten Raum des Hauses: im Keller.
Herr Tepes hatte freundlicherweise seinen Sarg als Geburtstagstisch zur Verfügung gestellt. Elvira Tepes hatte eine dunkelrote Tischdecke darübergelegt. Das sah nicht nur netter aus, fand sie, sondern schonte auch das Herz von ihrem Vater Gustav Wagenzink, der zum Geburtstag seiner Enkelinnen natürlich auch anwesend war.
Die in Bistrien üblichen Geburtstagsspielchen wie Sargschlagen, Sackfliegen oder ›Der Plumpknobi geht um‹ kamen heute, wo Opa Gustav anwesend war, leider auch nicht infrage. Um der transsilvanischen Tradition zumindest etwas gerecht zu werden, hatte Mihai immerhin stundenlang liebevoll Mortadellakonfetti mit den Eckzähnen ausgestanzt, zusammen mit seiner Frau Salamigirlanden gebastelt und den Keller damit geschmückt.
Die Tepes feierten, seit Silvania und Daka in den frühen Morgenstunden wieder zu Hause eingeflattert waren. Obwohl die Tepes und auch Helene und Ludo von der langen, abenteuerlichen Nacht erschöpft waren, war die Stimmung im Keller nicht im Keller, sondern zensatoi futzi. Die Freude und Erleichterung darüber, dass Silvania und Daka und ihre beiden Freunde die Nacht gut überstanden und obendrein noch die ganze Stadt gerettet hatten, versetzte alle in einen Glücksrausch.
Elvira Tepes stand hinter ihrem Laptop, an den sie zwei Lautsprecherboxen angeschlossen hatte. Sie war DJane Klobrille. Geschickt klickte sie sich durch ihre Musikdateien und rollte dabei im Rhythmus mit den Schultern.
Mihai Tepes schwebte gerade mit einer CD in der Hand zu seiner Frau. »Hier, meine märchenhafte Musikarrangeuse, spiel das mal.«
Elvira sah auf die CD und runzelte die Stirn. »Was ist das?«
»Das sind 13 Versionen von ›Transsilvania, rodna inima moi‹. Es gibt eine Beat-Version, eine HipHop-Version, eine Rumba-Version, eine Punk-Version, eine Trash-Metal-Version, eine –«
Frau Tepes nahm ihrem Mann mit einem Lächeln die CD aus der Hand. »Später, mein Blutsauger, später.« Sie küsste ihn auf einen seiner beiden dichten schwarzen Lakritzschnauzerkringel. »Und denk bitte an das Herz meines Vaters. Kein Beißen, Saugen, Fliegen und Flopsen, solange er da ist!«
Doch selbst wenn Mihai Tepes ein dreifaches Looping geflogen wäre und danach seine Schwiegermutter leergesaugt hätte, hätte Opa Gustav davon nichts mitbekommen. Er saß auf einem kleinen Hocker vor dem Sarg, hielt vier Spielkarten in der Hand und hatte alles andere um sich herum ausgeblendet.
Oma Zezci, die ihm gegenüber kopfüber an der Kellerlampe hing, hatte ebenfalls ein Pokerblatt auf der Hand. (Sie hatte Opa Gustav erklärt, dass ihr Arzt ihr verordnet hatte, mehrmals täglich kopfüber abzuhängen, da ihr Gehirn dann besser durchblutet werden würde.)
Opa Gustav
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