Bitter im Abgang
gehalten hatte, übereilt. Es war nicht so, dass er sich davor gefürchtet hätte. In seiner Partisanenzeit hatte er den Tod etliche Male, wenn nicht gesucht, so doch erwartet. Und in den langen Winternächten hatte er seinen Kampfgefährten, den Garibaldini wie den Autonomen, die Geschichte von Kleobis und Biton erzählt; sein Griechischlehrer hatte sie an jedem ersten Schultagzum Besten gegeben, um die neuen Gymnasiasten zu beeindrucken, als wolle er gleich einmal testen, wer von ihnen der Grausamkeit der Klassiker gewachsen war. Die Mutter von Kleobis und Biton war eine Priesterin der Hera. Als sie eines Tages zum Opferfest in den Tempel musste, aber kein Ochsengespann zur Verfügung stand, spannten sich die Brüder selbst ins Joch und zogen den Wagen. Gerührt betete die Mutter zur Göttin Hera und bat, ihren beiden Söhnen zum Dank das Beste angedeihen zu lassen, was ein Mensch erreichen könne. Am nächsten Tag fand sie die beiden tot vor. «Das Beste ist, nie geboren zu werden oder früh zu sterben.»
Die Partisanen reagierten unterschiedlich. Die Garibaldini waren empört; ihrer Meinung nach war der Mensch zur Tat geschaffen, zum Sieg, zur Revolution, der Tod war was für Faschisten; und bald kursierte das Gerücht, Amilcare bringe Unglück. Die Autonomen hörten ihm zwar schweigend zu, aber auch sie zeigten sich nicht besonders beeindruckt. Alle blickten zu Tobia, dem Anführer, der für alles eine Erklärung hatte.
«Wie weit haben sie den Wagen gezogen?», fragte er.
«Fünfundvierzig Stadien.»
«Als da wären?»
«Ungefähr acht Kilometer.»
«Versuch du mal, einen Ochsenwagen acht Kilometerweit zu ziehen. Da kriegst du auch einen Herzschlag. Vor allem bei den vielen Zigaretten, die du rauchst.» Diese Antwort hatte Amilcare gefallen. Das war auch einer der Gründe, warum er sich schließlich den Autonomen angeschlossen hatte.
Zu guter Letzt hatten ihm die Zigaretten keinen Infarkt beschert, sondern Schlimmeres. Inzwischen hatte sich Amilcare damit abgefunden, dass er sterben würde, ohne den Roman seines Lebens beenden zu können. Aber die Geschichte vom Schatz der Vierten Armee, die durfte nicht unvollendet bleiben, die musste er unbedingt noch aufschreiben, bevor er starb.
4
Capri,
Sonntag, 25. April 2011, 9.30 Uhr
Im Bademantel stand Antonio Tibaldi auf der Terrasse. Im April ebenso wie im Dezember fuhr er gerne in den Süden. Im Sommer war es überall heiß, auch in Alba. Ende April jedoch war es in Alba an manchen Tagen noch recht winterlich. Deshalb fuhr er gern Ende April, bevor die ersten Touristen kamen, und Anfang Dezember, nachdem die letzten wieder weg waren, in seine Villa auf Capri. Seine Freunde aus Neapel sagten zu ihm, er gleiche Axel Munthe oder sogar Tiberius, wenn er mit dem Gestus des Ästheten oder des Kaisers auf den Horizont deutete, um seinen Gästen den Vesuv, Sorrento oder Praiano zu zeigen, die dann, um ihm einen Gefallen zu tun, so taten, als wäre ihnen das völlig neu. Tibaldi ließ sie reden. Über Tiberius wusste er gerade mal, dass er ein antiker römischer Kaiser war. Über Axel Munthe, dass er schwul war.
Tibaldi war kein besonders kultivierter Mensch. Abersagenhaft reich und stets auf der Hut. Als junger Mann war er ein richtiges Arbeitstier gewesen. In der Resistenza hatte er nicht gekämpft. Es war ihm gelungen abzutauchen, allerdings nicht in irgendein Loch wie so mancher Feigling, der sich in dieser Zeit tot stellte. Die Priester hatten ihn aufgenommen und bei sich im Seminar versteckt. Monatelang durfte er das Haus nicht verlassen, nicht einmal nachts. Denn die Faschisten waren ganz in der Nähe stationiert. Deshalb hatte ihm Pater Bergoglio, der Rektor, streng verboten, sich draußen blicken zu lassen. Wenn Deutsche gesehen wurden oder es nur das Gerücht gab, sie seien in den Bergen gesehen worden, brachte ihm der Pater einen Talar und verlangte, dass er sich als Priester verkleidete. Und als auch das Seminar requiriert wurde, nahm Pater Bergoglio ihn zu sich ins Pfarrhaus. Tibaldi machte alles mit. Er war dem Priester dankbar dafür, dass er ihm den Krieg erspart hatte und ihm offenbar aufrichtig zugetan war. Doch manchmal bekam er Schuldgefühle, schämte sich wie ein Deserteur und bat darum, gehen zu dürfen, um mit seinen Freunden zu kämpfen. Dann nahm Pater Bergoglio seinen Kopf zwischen die Hände und flüsterte: «Sei still. Geh schlafen. Deine Zeit kommt noch. Bald wird ein neuer, nicht weniger wichtiger Krieg ausbrechen, und dann musst
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