Leuchtend
1. Eine Reise der Begierde
Ich blicke aus dem Fenster auf die vorbeiziehende Landschaft. Der Zug hat den Bahnhof Montparnasse gerade verlassen und der vor meinen Augen auftauchende Vorort erscheint mir grau und verdrossen, genau wie meine Stimmung. Ich habe überhaupt keine Lust, die kommenden zwei Tage in den Weinbergen zu verbringen. Heute Abend hatte ich einen gemütlichen Abend zu Hause vorgesehen und Marion hat mir für morgen Abend vorgeschlagen, ins Kino zu gehen, so wie jeden Freitag. Aber Éric hat anders entschieden. Ich mag meinen Chef, denn er hat mich ein wenig unter seine Fittiche genommen und baut mich auf, indem er mir einen Großteil der Verantwortung überträgt, aber in diesem Fall verlangt er ein wenig zu viel von mir. Seit sechs Monaten arbeite ich als Praktikantin für seine Internetseite, die der Weinkunde gewidmet ist. Éric ist 37 Jahre alt, alleinstehend und hat keine Kinder. Außerdem arbeitet er mehr oder weniger zwanzig von vierundzwanzig Stunden, und manchmal kann er einfach nicht verstehen, warum wir, Émilie und ich, nicht mit genauso viel Begeisterung bei der Sache sind. Wir sind nur zu dritt im Team: Éric schreibt die Texte, Émilie kümmert sich um die administrativen Angelegenheiten und ich bin Praktikantin, um mein letztes Studienjahr im Bereich Journalismus abzuschließen. "Meine kleine Amandine", sagt Éric häufig zu mir, "wenn du ein wenig mehr arbeiten würdest, könntest du es weit bringen!" Was ich mich nie getraut habe, ihm zu sagen, ist, dass ich nicht so zielstrebig war wie meine Freunde aus meinem Jahrgang und dass dieses Praktikum in seinem kleinen Unternehmen das Einzige war, das ich, nachdem ich mich wie immer erst im letzten Moment darum gekümmert hatte, gefunden habe. Es ist nicht so, als würde mir die Arbeit als Journalistin nicht gefallen, ganz im Gegenteil, ich liebe es, zu schreiben, aber ich bin eben nicht so praktisch veranlagt. Zu schüchtern, zu impulsiv, zu sehr … ich selbst: eben alles und davon genau das Gegenteil. Mit 22 Jahren ist es nun wirklich an der Zeit, dass ich meine Selbstfindung beende. "Wer bin ich? Wohin gehe ich? Was ziehe ich an? Was machen wir? Was will ich?" – diese Fragen sind mein tägliches Los.
Und "Ich weiß nicht" meine liebste Antwort.
Alle Passagiere in diesem Waggon des TGV schlafen oder blicken verträumt in die Runde. Ich nehme meinen Tablet-PC heraus und versuche ein wenig zu arbeiten. Paris-Angoulême ist nur eine Strecke von zweieinhalb Stunden, also muss ich mich ein wenig beschäftigen, bevor wir ankommen. Éric hat mich vor der Abreise gut informiert und mir etwas Druck gemacht: "Ich kann nicht hinfahren, Amandine, aber diese beiden Tage sind wirklich sehr wichtig. Ich vertraue dir, aber es muss dir unbedingt gelingen, ein paar Worte mit Diamonds zu wechseln." Gabriel Diamonds … Dieser Mann ist ein Mythos in der Welt des Weins. Der Multimilliardär ist ein Pressechef, der nahezu alle Publikationen der internationalen Presse rund um den Weinhandel besitzt. Vor allem ist er aber einer der größten Weinliebhaber der Welt und hat im Lauf der Zeit die besten Weinberge Frankreichs gekauft. Jedes Jahr veranstaltet er im Château de Bagnolet eine große Feier, um Weinreben vorzustellen und deren Verbreitung zu unterstützen. Ich weiß zwar nicht, warum, aber scheinbar würden alle für eine Einladung sterben. Der Höhepunkt dieser zweitägigen Feierlichkeiten auf dem Gipfel des Luxus ist ein klassisches Konzert, welches Diamonds für seine engsten Gäste organisiert. In der Regel ist die Fachpresse zu dieser Feier eingeladen, jedoch bekommt nur selten ein Journalist die Möglichkeit, beim Konzert dabei zu sein und sich Diamonds zu nähern. Gedankenvoll betrachte ich die schöne Einladung aus dickem, cremefarbenem Papier, die ich in meiner Tasche habe, und ich streiche mit meinem Finger über die großen, vergoldeten Buchstaben und lese: "Gabriel Diamonds freut sich, Sie einzuladen." Die Freude ist nicht wirklich auf meiner Seite, ich bin schon jetzt gestresst, dennoch bin ich neugierig und kann es kaum erwarten. Ich habe schon so viel über diesen mysteriösen Mr Diamonds gehört, vor allem von Éric, aber auch bei Geschäftsessen und natürlich aus den Zeitungen. Ich verstehe noch immer nicht, warum Éric mich dort hinschickt.
Dann wird mir klar, dass ich noch nicht einmal Diamonds Alter oder sein Gesicht kenne und ich suche verbissen über Google nach ihm. Ich versuche mich zu beruhigen, denn er kann ja
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