Bittere Mandeln
habe ich eine Kundenkarte von My Magic Forest. Wenn ich die beiden Geschenke damit kaufe, bekomme ich schneller meine Treueprämie im Wert von zehntausend Yen.«
Als Tante Norie schließlich bezahlte, hatte das Wetter draußen umgeschlagen. Es regnete, und die Leute drängten sich vor dem Eingang. Solche Menschenaufläufe sind in Roppongi nichts Ungewöhnliches, besonders nicht vor dem Plattenladen, wenn eine neue CD von Namie Amuro herauskommt. Doch diesmal standen mehrere Dutzend jeansbekleidete junge Leute unmittelbar vor My Magic Forest und versperrten den Zugang. Sie trugen Schilder mit Aufschriften in japanischer, englischer und spanischer Sprache. Daß ich Spanisch in der High-School gelernt hatte, war lange her, also dauerte es eine Weile, bis ich die unterschiedlichen Texte übersetzt hatte. SCHÖNE BLUMEN TÖTEN MENSCHEN, stand auf dem einen Schild, und auf den anderen las ich: EINE ROSE, DIE EINEN ANDEREN NAMEN TRÄGT, STINKT. STOPPT DIE VERWENDUNG VON PESTIZIDEN.
»Eine Gruppe, die gegen Blumen protestiert«, sagte ich, nachdem ich mir die jungen Leute genauer angesehen hatte. Ungefähr die Hälfte davon waren Japaner; die anderen sahen nach Latinos aus oder verbanden japanische Gesichtszüge mit einem dunklen Teint. Vermutlich stammten letztere von Japanern ab, die um die Jahrhundertwende nach Lateinamerika ausgewandert waren. Die Nachfahren kehrten oft zum Arbeiten nach Japan zurück, weil dort die Löhne sogar für schlechte Jobs in Restaurants und im Baugewerbe höher waren als in ihrem Heimatland.
»Auf den japanischen Schildern steht ›Blüten bringen Sturm‹ und ähnlicher Unsinn. Komm, sehen wir uns nach einem Taxi um.« Trotz ihrer geringen Körpergröße warf sich Tante Norie, die linke Schulter mit der Schultasche voraus, in die Menschenmenge.
»Wer Blumen aus Kolumbien kauft, unterstützt eine Industrie, die ihre Arbeiter tötet. Madam, Sie wollen doch sicher nicht zur Mörderin werden, oder?« fragte eine junge Frau meine Tante.
»Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz.« Tante Norie bedachte die Frau mit einem freundlichen Lächeln, wie man es Vorschulkindern schenkt, die den Zugang zur Rolltreppe versperren.
»Die Japaner wollen unbedingt frische und qualitativ hochwertige Blumen aus dem Ausland. Für Sie besprühen die Blumenzüchter in Kolumbien ihre Blumen mit zehn verschiedenen Pestiziden. Dann schneiden Arbeiterinnen die Blumen und werden krank davon. Ihre Kinder kommen mißgebildet zur Welt. Mindestens achtundzwanzig Menschen sind bereits an den Folgen einer Pestizidvergiftung gestorben!«
Tante Norie wirkte betroffen. Wahrscheinlich dachte sie an die zahlreichen importierten Blumen, die sie allwöchentlich fürs Ikebana brauchte. Mit stockender Stimme fragte sie: »Um welche Blumen handelt es sich dabei?«
»Hauptsächlich werden Rosen und Nelken aus Kolumbien importiert, aber es gibt auch andere Blumen. Wenn Sie uns helfen, den Laden zu boykottieren, zwingt das die Blumenzüchter dazu, ihre Methoden zu ändern.«
Ich wollte ihr gerade sagen, daß das den Einsatz von Pestiziden wohl letztlich nur verstärken würde, als ein junger Mann mit japanischen Augen und dichtem, schwarzem Lockenhaar zu uns trat. Er trug eine Jeansjacke mit der Aufschrift CHE auf der einen und STOPPT DAS BLUMENMORDEN auf der anderen Seite.
»Schließen Sie sich unserem Boykott an? Lieben Sie Blumen oder lieben Sie Menschen?« fragte Che.
»Nun, ich achte jede Form des Lebens«, erwiderte Tante Norie. »Ich würde gern noch mehr hören, aber leider muß ich jetzt zum Kayama-Kaikan.«
»Zur Kayama-Schule? Die ist absolut unmoralisch! Da wird ein Vermögen für Blumen aus meiner Heimat ausgegeben. In meinem Land haben Frauen Abgänge oder bringen Kinder ohne Arme zur Welt, weil die Damen von der Kayama-Schule Blumen mehr lieben als Menschen!« Che stand jetzt ganz dicht vor Tante Norie, und ich sah, daß sie sich ein wenig duckte.
»Die Kayamas sind die Nazis der Blumenwelt!« pflichtete ihm ein weiterer Demonstrant bei.
»Ja, genau.« Che war nicht besonders groß, schob aber seinen Körper aggressiv nach vorn. »Wenn Sie Blumen von den Kayamas und diesem Laden kaufen, sind Sie schon fast eine Doppelmörderin!«
»Aber ich habe keine Blumen gekauft, sehen Sie!« Tante Norie entfernte das Siegel von ihrer Einkaufstüte und holte eine als Geschenk verpackte Schachtel heraus. Als die jungen Leute ihr den Weg noch immer nicht freimachten, wickelte sie die Schachtel aus, holte die Ikebana-Schere
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