Blau wie Schokolade
Zeichnungen, Bildunterschriften: »Jeanne Maries erster Tag in der Vorschule«, »Julie Annes erster Zahn«, »Tommy an seinem zweiten Geburtstag«, »Theo bei den Pfadfindern« …
Zuerst wirkten die Kinder verdutzt, doch dann stürzten sich alle auf ihr Fotoalbum, lachten und plapperten, und als sie sie durchgeblättert hatten, tauschten sie. Am Ende drängten sich alle um das Familienalbum.
Sie waren begeistert von den Alben.
Und nun wussten sie, dass ich sie liebhatte.
Auch wenn ich während des Aufenthalts der Kinder mehrmals kurz davorstand, die Nerven zu verlieren, auch wenn ich keine Ahnung hatte, wie ich mit so vielen unterschiedlichen Charakteren und so einer Vielfalt an Gefühlsextremen umgehen sollte, war es eine wunderbare Zeit.
Und das war das Wichtigste überhaupt.
Als Charlie drei Stunden später aufstand, um nach Hause zu fahren, versteckten sich die Kinder erneut, bis er laut rief, sie sollten auf der Stelle kommen, sonst würde er ihr gesamtes Computerspielzeug einsammeln.
»Ich nicht gehen, ich nicht gehen«, sang Julie Anne. Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, sprang sie bei jeder Silbe in die Luft. Sie hatte wieder mal nur ihr Tutu und den Froschhut mit der heraushängenden Zunge an. Nach mehreren anstrengenden Wutanfällen hatte ich gelernt, dass Julie Anne damit sagen wollte, sie würde ihre Meinung nicht ändern.
»Warum können wir nicht noch ein paar Tage länger bleiben, Daddy?«, fragte Theo. »Tante Jeanne ist es egal, und Mum hätte noch ein bisschen mehr Ruhe. Du hast gesagt, du arbeitest im Moment nicht, dann könntet ihr beiden doch Urlaub machen.«
Ich hatte mich mit Theo viel übers Reisen unterhalten. Wir hatten in mehreren Zeitschriften geblättert und eine potentielle zehntägige Fahrt durch Brasilien mit sämtlichen Zwischenstationen geplant. Mit Buntstiften zeichneten wir eine Karte von Brasilien, in die alle Städte und Dörfer eingetragen wurden, die wir besuchen wollten. Wie druckten Fotos aus dem Internet aus und klebten sie auf die Landkarte.
»Tante Jeanne kann uns doch in ein paar Wochen zurückbringen. Uns gefällt es hier«, sagte Tommy. Ich schaute beschämt zur Seite. Tommy hatte mehrmals nachgefragt, warum ich bisher nichts mit ihnen zu tun gehabt hätte. Er hätte doch so viel Spaß mit mir, obwohl ich schon »so alt« wäre. Ich beschloss, die Wahrheit zu sagen, und erzählte ihm, dass ich Johnny und Ally Johnna verloren hatte, dass es mir schwergefallen sei, mit Kindern zu tun zu haben, aber dass es allmählich besser würde.
»Also war dein Herz ganz krank, und jetzt wird es langsam wieder gesund?«, fragte er.
»So ähnlich«, sagte ich. »Kommt ungefähr hin. Wollen wir mal draußen gucken, ob wir Schlangen finden?« Das wollte er, und so gingen wir nach draußen auf Schlangenjagd.
»Wir haben am Fluss gespielt. Wir haben Pfannkuchen mit Donovan und Rosvita gebacken. Wir haben mit Becky und Soman gebastelt«, erklärte Tommy. »Ich habe eine Schlange gefangen. Wir wollen noch bleiben. Bitte, Dad!«
»Ich nicht gehen«, wiederholte Julie Anne. Und hüpfte bei jedem Wort auf und ab. Julie Anne mochte mich, aber mir gefielen ihre Wutausbrüche nicht. Als ich ihr eine Pause verordnete, holte sie ihre Buntstifte heraus und malte eine Prinzessin mit dem Kopf einer Eidechse. Das sollte ich sein. Ich sagte, sie könne toll malen. Gemeinsam zeichneten wir Eidechsen in Smokings, Abendkleidern, engen Jeans und Rockstar-Kleidung.
»Jeanne liest uns jeden Abend etwas vor, und alle Figuren haben dabei eine andere Stimme«, sagte Jeanne Marie.
»Rosvita weiß alles über Krankheiten und Bakterien«, sagte Theo. »Es gibt das Martin-Syndrom, das ist Periosteoarthritis des Fußes, und bei zu wenig Natrium im Körper kann man schlimme kardiovaskuläre Probleme bekommen.«
Mein Bruder nickte mit weitaufgerissenen Augen.
Ich kicherte nervös und zuckte mit den Achseln, als hätte ich nicht die geringste Ahnung, was Theo gerade gesagt hatte.
»Ich nicht gehen! Ich nicht gehen!«, schrie Julie Anne mit verzerrtem roten Gesicht. Ich wusste, was als Nächstes kommen würde, aber da nun ihr Vater da war, konnte er sich gerne mit dem nächsten Wutanfall herumschlagen. »Will Pfannkuchen essen mit Rosie!«
Wir hatten Rosvita im Opera Man’s Café getroffen. Jedes Mal, wenn Donovan an unseren Tisch kam, errötete sie. Da ich vier Kinder dabeihatte, blieb mir keine Zeit, mich zu wundern. Doch ihr rotes Gesicht entging mir nicht. Donovan schaute sie zärtlich
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