Bleib bei mir, kleine Lady
Lady Gracila die Hände vor das Gesicht.
Er muß mich hierbehalten, dachte sie. Wohin soll ich denn sonst gehen? Hier vermutet mich niemand.
Ehe sie aus dem Schloß geflohen war, hatte sie verzweifelt überlegt, wie sie zu Geld kommen könnte. Sie hatte bisher nie Geld gebraucht und daher auch nie sehr viel mehr als ein paar Shillings bei sich gehabt.
Die wenigen Schmuckstücke aus dem Erbe ihrer Mutter, die nicht im Safe verschlossen waren, hatte sie natürlich mitgenommen. Den Rest hatte sie zurücklassen müssen. Der neue Butler, der mit dem guten alten Mitty leider nichts gemein hatte, hätte nie ohne Genehmigung ihres Vaters den Safe geöffnet.
Sie hatte versucht, einen klaren Kopf zu behalten und nicht hysterisch zu werden. Wegzulaufen war die einzige Möglichkeit gewesen, denn eine Heirat mit dem Herzog kam nicht in Frage.
Wie dumm sie doch gewesen war! Sie hätte seinen Antrag gar nicht erst annehmen dürfen.
Ihre Stiefmutter hatte alles eingefädelt und es auf ihre geschickte Art fertiggebracht, daß sie auf keinerlei Widerstand gestoßen war.
Sie war eine intelligente, schlaue Frau, und Gracila hatte erst viel zu spät begriffen, daß sie im Vergleich zu ihr ein ahnungsloses, gutgläubiges Wesen war.
Daß der Herzog von Radstock ausgerechnet sie zur Frau haben wollte, hatte sie aufregend gefunden. Jedes Mädchen, das sie kannte, hatte sie glühend beneidet.
Der Herzog war nicht nur eines der einflußreichsten und wohlhabendsten Mitglieder des Hochadels, er war auch ein sehr sportlicher Mann und besaß Pferde, die bei fast allen wichtigen Rennen den Sieg davontrugen.
„Der Familienschmuck der Radstocks ist einmalig“, hatte Gracilas Stiefmutter betont. „Nicht einmal die Königin kann mit Brillanten derselben Reinheit und Größe aufwarten.“ Sie hatte den Anflug von Neid in der Stimme nicht verbergen können. „Als Herzogin von Radstock bist du königliche Kammer Jungfer und wirst zu jedem Staatsempfang eingeladen. Es heißt ja auch, daß die Königin eine Schwäche für den Herzog hat, was mich bei ihrer Vorliebe für gutaussehende Männer nicht wundert.“
Das alles hatte sehr verlockend geklungen.
Gracila liebte Pferde, und da sie selbst immer in einem großen Schloß gelebt hatte, empfand sie es als angenehm, sich auch in Zukunft nicht einschränken zu müssen.
Daß der Herzog sich nicht erst an sie, sondern direkt an ihren Vater gewandt hatte, enttäuschte Gracila. Doch dann schaltete sich ihr gesunder Menschenverstand ein, und sie sagte sich, daß dies insofern verständlich war, als der Herzog wahrscheinlich gar nicht auf die Idee kam, er könne abgelehnt werden. Schließlich war er die beste Partie ganz Englands.
Die Tatsache, daß der Herzog schon einmal verheiratet gewesen war, hatte Gracilas Stiefmutter nur kurz erwähnt. Die erste Frau war schließlich tot, und es erschien wenig sinnvoll, sich weiter über die Vergangenheit oder den Umstand auszulassen, daß der Herzog Gracilas Vater hätte sein können.
Da die Phantasie mit Gracila durchgegangen war und sie sich immer wieder vorgestellt hatte, welches Leben sie als Herzogin von Radstock führen würde, hatte sie völlig vergessen, in dem Herzog den zukünftigen Ehemann zu sehen.
Er war für sie eine ziemlich nebulöse Gestalt gewesen, vergleichbar mit den mythischen Helden des Altertums, die ihr allerdings manchmal wirklicher vorgekommen waren als die Menschen ihrer Umgebung.
Da Gracila so viel jünger war als ihre Brüder und Schwestern und weil sie sich aus diesem Grunde viel mit sich selbst hatte beschäftigen müssen, hatte sie ihre Abwechslung in den Büchern gefunden, die sie buchstäblich verschlang.
Wenn sie las, tauchte sie in eine Märchenwelt ein, in der alles schön war und in der jeder glücklich leben konnte. Unsympathische Frauen mit scharfen Stimmen, Frauen wie ihre Stiefmutter, existierten in dieser Welt nicht.
Es lag nicht daran, daß die neue Gräfin von Sheringham den Platz ihrer Mutter eingenommen hatte und die volle Aufmerksamkeit von Gracilas Vater in Anspruch nahm, sondern an der Tatsache, daß Daisy Sheringham eben kein netter Mensch war.
Gracila konnte sich dieses instinktive Gefühl der Abneigung selbst nicht erklären. Sie wußte lediglich, daß sie versucht hatte, es zu überwinden, doch ohne jeglichen Erfolg.
Aus diesem Grund hätte sie bereits in dem Augenblick mißtrauisch sein sollen, als ihre Stiefmutter ihr mitgeteilt hatte, daß sie die Frau des Herzogs werden solle.
Wie konnte ich
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