Bleib ungezaehmt mein Herz
hat eine Nachricht für Sie.«
Marcus griff nach einem Handtuch und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Jemand für mich, Jackson?«
»Ja, Mylord.« Gentleman Jackson zeigte auf einen jungen Burschen in der Livree der Carringtons, der am anderen Ende des Raums stand und mit großen Augen die Sparringspartner anstarrte.
»Was zum Teufel kann er wollen?« Marcus winkte, und der Junge eilte zu ihm und berichtete hastig: »Ihre Ladyschaft möchte, daß Sie unverzüglich nach Hause kommen, Mylord.«
»Ihre Ladyschaft!« Sein Herz verkrampfte sich. Nur ein dringender Notfall würde Judith dazu bringen, ihn auf diese Weise suchen zu lassen.
»Geht es Ihrer Ladyschaft gut?« fragte er, während er sich den Kopf trockenrubbelte.
»Ja, Mylord«, erwiderte der junge Mann. »Das glaube ich jedenfalls, Mylord. Gregson hat gesagt, wir sollten alle losgehen und London nach Ihnen absuchen, Sir.«
»Alle?«
»Ja, Mylord. Wir sind zu sechst.«
»Gehen Sie zum Berkeley Square zurück und sagen Sie, ich sei unterwegs«, wies Marcus ihn an, und sein Herzschlag beruhigte sich allmählich, als er im Umkleideraum verschwand. Wenn Judith unverletzt und wohlbehalten war... nur darauf kam es an. Sicher hätte sie nicht ganz London nach ihm durchkämmen lassen, nur um ihm zu sagen, daß sie ihn verlassen würde. Andererseits - da er seinen Luchs kannte, sollte er vielleicht nicht so optimistisch sein. Bis jetzt hatte er es nicht fertiggebracht, ihr um einen Schritt voraus zu sein. Wie kam er nur auf die Idee, er könnte es jetzt?
Er zog sich hastig an und nahm eine Mietkutsche nach Hause. Gregson hielt bereits die Tür auf, als Marcus die Treppenstufen heraufrannte. »Ihre Ladyschaft... ?«
»Im gelben Wohnzimmer, Mylord.«
Marcus nahm immer zwei Stufen auf einmal. »Judith, was ist los?« Die Frage war auf seinen Lippen, noch bevor er die Tür vollständig geöffnet hatte. Ihr bleiches Gesicht und ihre angstvollen Augen ließen ihn abrupt innehalten. »Was ist passiert?«
»Harriet«, sagte sie und fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen. Am liebsten hätte sie sich in seine Arme geworfen, aber die Erinnerung an die vergangene Nacht war noch zu frisch. »Ich glaube, Agnes und Gracemere haben sie entführt.«
Marcus schloß einen Moment die Augen. Er wollte den Namen Gracemere nie wieder hören. Er hatte kein Interesse an seinem alten Feind und an Agnes Barret. Wenn er die Scherben seiner zerstörten Ehe wieder aufsammeln sollte, mußte Bernard Melville, Earl von Gracemere, im hintersten Winkel der Hölle schmoren. Und dann sah er Martha vor sich, wie er sie an jenem Morgen vor zehn Jahren gefunden hatte, in einer Ecke des Zimmers zusammengekauert, ihr Gesicht mit blauen Flecken übersät, ihre Augen blicklos vor Tränen, während leise Wimmerlaute aus ihrer Kehle aufstiegen, als sie sich in ihrem Schmerz hin und her wiegte. Ein Mann, der einmal vergewaltigt hatte, war durchaus auch ein zweites Mal dazu fähig.
»Sag mir, was du weißt.«
Judith berichtete Marcus, was geschehen war, stellte dabei fest, daß sich ihre Gedanken unter Marcus' ruhiger Aufmerksamkeit wie von selbst ordneten und sie Tatsachen darstellen konnte statt bloßer Eindrücke. »Ich habe so schreckliche Angst«, sagte sie am Schluß. »Ich habe immer das Böse in Gracemere und in Agnes gespürt. Was werden sie ihr antun, Marcus?«
Marcus überlegte schnell. Es hatte keinen Sinn, Judiths Ängste noch zu schüren. Später, wenn alles vorbei war, würde er ihr die Wahrheit über Gracemere und Martha sagen. Aber jetzt mußte er die Schändung einer anderen Unschuld verhindern. Er mußte rechtzeitig dort hinkommen. Einmal hatte er versagt, diesmal würde er nicht versagen.
Als Marcus erneut zu sprechen begann, geschah es mit Präzision und Schärfe, und Judith erbebte vor Angst bei der Wut und Entschlossenheit in seinen Augen.
»Ich werde nicht zulassen, daß Harriet ein Leid geschieht. Das hier geht nur mich und Gracemere etwas an. Du wirst niemandem ein Wort sagen, und du wirst hier warten, bis ich zurückkomme. Du und dein Bruder werdet euch aus dieser Sache heraushalten. Ich dulde keine Einmischung. Hast du verstanden?«
»Ich habe verstanden«, sagte Judith, als Marcus aus dem Raum marschierte.
Aber ich akzeptiere es nicht.
31. Kapitel
Judith rannte auf ihr Zimmer, warf sich ein Cape um die Schultern, schob ihre Pistole und eine schwere Geldbörse in die Tasche und verließ das Haus durch die Verandatür des
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