Bleicher Tod - Winkelmann, A: Bleicher Tod
gewusst?«
Dr. Sternberg zuckte mit den Schultern.
»Ich weiß es nicht, und vielleicht werden wir das nie erfahren. Aber wenn er es nicht gewusst hat, dann hat das Schicksal uns allen einen wahrhaft grausamen Streich gespielt.«
Am Ende des Tages besuchte Nele Alexander Seitz in der Untersuchungshaft.
Aus seiner Sicht hatte Seitz den Mörder seiner Freundin Jördis gerichtet, und Nele konnte sogar verstehen, warum er so gehandelt hatte. Nur leider war seine Sicht falsch gewesen. Horst Schön war zu Lebzeiten wohl kein netter Mensch gewesen. Sie hatten auf seinem PC Hunderte pornografischer Aufnahmen gefunden, viele davon hatte er selbst in seinem kleinen Studio in der Katzengasse geschossen. Die Mädchen zu identifizieren würde lange dauern, einige würden sie niemals ausfindig machen.
Zudem hatte er auf dem Grundstück seines Elternhauses eine illegale Hanfplantage betrieben und den Cannabis auch selbst vermarktet. Alle vier Wochen hatten seine osteuropäischen Partner einen Wäschekorb voll alter, getragener Schuhe in der Katzengasse abgeholt. Schuhe für arme Menschen in armen Ländern, wie sie überall gesammelt wurden.
Schuhe, bis oben hin vollgestopft mit Drogen.
Aber er war kein Mörder gewesen. Nicht nach dem jetzigen Stand der Ermittlungen.
Somit war Alexander Seitz neben den Getöteten der große Verlierer dieser tragischen Geschichte. Er würde angeklagt werden, so viel stand fest. Nele, Anou, Miriam Singer und auch der Rest des Teams würden für ihn aussagen, sodass er am Ende mit einer Strafe auf Bewährung rechnen durfte. Aber der Richterspruch würde für diesen Mann nur die geringste aller Strafen sein.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte Nele, nachdem sie Seitz berichtet hatte, was sie von Sadowski erfahren hatte.
Er betrachtete seine Hände.
Unter den Augen hatte er tiefschwarze Ringe. Er war nicht rasiert, und das Weiß seiner Augen war von roten Äderchen durchzogen.
Er schüttelte den Kopf. »Ist nicht wichtig«, sagte er leise.
»Doch, finde ich schon.«
Seitz sah zu ihr auf. »Wenn Sie sich fragen sollten, ob ich es bereue, ihn erschossen zu haben, dann ist die Antwort: nein. Schön war Abschaum, und das wissen Sie. Ich bereue nur, bei dem anderen zu tief gezielt zu haben.«
»Eigentlich habe ich mich gefragt, wie Sie mit dieser Last leben werden.«
Seine Augen blieben ausdruckslos. Er fixierte einen Punkt irgendwo hinter Nele an der Wand, eine besondere Stelle, die wohl nur er selbst sehen konnte.
»Mit dieser Schuld, meinen Sie«, sagte er, ohne seinen Blick von der Wand zu nehmen. »Es gibt nur eine einzige schwere Schuld, mit der ich leben muss, und dass ist die an Jördis’ Tod. Daran habe ich schuld, es war mein Fehler und …«
Er brach ab, schüttelte den Kopf, erhob sich und verließ den Raum.
Nele Karminter sah ihm noch nach, als er schon lange verschwunden war.
Nachbemerkung des Autors
Alle Personen der Handlung sind frei erfunden, und jede Ähnlichkeit mit tatsächlich lebenden Personen ist zufällig und nicht beabsichtigt.
Ich liebe diesen Satz. Man kann beim Schreiben jemandem mächtig auf die Füße treten und sich mit diesen paar Worten davonstehlen. Das gilt auch für diese Geschichte, liebe Leserinnen und Leser, bis auf eine Ausnahme: den Soziopathen. Den gibt es wirklich. Ich habe ihn schon des Öfteren getroffen. Sie vielleicht auch? Wenn einer von fünfundzwanzig Menschen ein Soziopath ist, dann müssen Sie ihn getroffen haben. Im Supermarkt, bei der Tankstelle, auf der Arbeit, im Gottesdienst … Er ist einfach überall.
Gemeinhin wird er als böse empfunden. Aber ist das Böse tatsächlich eine Krankheit? Kann der Soziopath nicht anders handeln, weil die Natur ihm ein Gewissen vorenthalten hat? Wissenschaftliche Antworten auf diese Fragen haben ich gefunden in dem Buch: »Der Soziopath von Nebenan« von Martha Stout, 2006 erschienen im Springer-Verlag, Wien.
Noch lange, nachdem ich diesen Roman beendet hatte, beschäftigte mich das Thema. Die Erkenntnis, tatsächlich vom Bösen umgeben zu sein, macht mir einerseits Angst, beflügelt andererseits aber auch meine Phantasie. Denn das Böse braucht einen Gegenspieler, und da Soziopathen meist männlich sind, muss der Gegenspieler weiblich sein.
Starke Frauen zu erschaffen macht Spaß, und auch im wirklichen Leben imponieren sie mir. Nach meiner Meinung tragen sie einen weitaus größeren Teil zum Funktionieren dieser Gesellschaft bei, als wir Männer es tun. Starke Frauen tragen auch diese
Weitere Kostenlose Bücher