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Bleiernes Schweigen

Bleiernes Schweigen

Titel: Bleiernes Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ferruccio Pinotti , Patrick Fogli
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die ganze Nacht gebraucht, um ihn zu schreiben. Kaum war er nach Hause gekommen, hatte er sich im Zimmer eingeschlossen, sich Stift und Papier gegriffen und angefangen zu schreiben. Er hat ihn zweimal gelesen und kein Wort geändert.
    Die Wahrheit funktioniert erst dann, wenn man sie erzählen kann.
    Er legt die Blätter übereinander, faltet sie zweimal zusammen, steckt sie in den Umschlag, schließt ihn, klebt ihn mit Tesa zu. Er schreibt die Adresse drauf und steht auf.
    Er denkt an den Anruf, den er vor ein paar Stunden erhalten hat.
    »Hier Falange Armata«, sagte die Stimme. »Wir haben dich nicht vergessen.«
    Noch einmal betrachtet er das Foto der beiden Brüder.
    »Hätten wir einen Sohn gehabt, hätten sie ihn ermordet«, flüstert er in das leere Haus.
    Dann schlüpft er in seinen Mantel und geht hinaus. Die Fahrt mit seiner Eskorte ist sehr kurz.
    Der Briefkasten ist ganz in der Nähe. Zweimal kontrolliert er die Adresse. Dann schiebt er den Brief in den Schlitz. Reglos steht er davor und sieht nichts als das Rot des Briefkastens. Dann dreht er sich um, steigt ein, und der Wagen fährt los.
    Er lässt sich in den Rücksitz fallen, ein besiegter, einsamer General, der nach Hause zurückkehrt, wo ihn niemand erwartet.
    »Alles in Ordnung, Dottore?«
    Daniele nickt.
    »Ich bin nur müde, danke.«
    Der Chef der Eskorte mustert ihn im Rückspiegel.
    »In ein paar Minuten sind wir da.«
    Der Richter schließt die Augen.
    Wir sind schon da, denkt er. Und es gibt keinen anderen Ort, an den er gehen kann.
     
    Ich räume die Wohnung meines Vaters auf. Die Schränke müssen geleert, seine Sachen geordnet werden, zig Kleinigkeiten, die es zu erledigen gilt, um mit der Abwesenheit eines geliebten Menschen fertigzuwerden.
    Ich will sie verkaufen. Einen Teil des Erlöses werde ich behalten, der Rest kommt auf ein Konto für Giulia. Ich habe es ihr noch nicht gesagt, der Streit ist vorprogrammiert, aber die Entscheidung steht fest, und ich habe nicht die Absicht, sie zu ändern.
    Seit sie wieder in New York ist, ruft sie mich jeden Tag an. Sie benutzt das Handy, der Computer ist fast immer aus. Ich gehe nur ganz kurz ins Netz, um die Post zu kontrollieren.
    Ich schreibe nicht, lese keine Zeitung und schalte den Fernseher nur ein, um vor einem Film oder einem Fußballspiel abzuhängen. Die Welt interessiert mich nicht. Irgendwann ist sie auch wieder dran, ich weiß. Aber im Augenblick ist es besser so.
    Ich brauche eine Woche, um Ordnung in Adrianos Habseligkeiten zu bringen. Ich tue es in kleinen Dosen, eine gute Stunde pro Tag. Alte Fotos meiner Mutter kommen zutage. Sie hat langes Haar bis zum Po, die Stadt könnte Madrid oder Barcelona sein. Die Schwarzweißbilder sehen aus wie aus einem anderen Leben, von dem ich nicht sicher bin, ob ich es tatsächlich gelebt habe.
    Ich finde sie in mehreren blauen Kisten, in denen man normalerweise seine Winter- oder Sommersachen aufbewahrt. Sie stehen auf einem Regalbrett, an das er leicht herankam, und sind perfekt geordnet. Ich stelle mir vor, wie er eine Kiste herauszieht, sie auf den Knien hält und mit der gleichen bemühten Distanziertheit, die ihn in der Öffentlichkeit so unterkühlt erscheinen ließ, durch die Momente seines Lebens blättert. Eine emotionale Zurückhaltung, derartig politisch korrekt, dass sie zu einer unerträglichen Maskerade verkam.
    Ich habe die Fotos mit nach Hause genommen. Solange ich noch nicht weiß, wohin damit, stehen sie im Wohnzimmer, an derselben Stelle, an der Elena ihre Unterlagen stapelte, ehe sie sich barfuss auf den Boden hockte und anfing zu lesen.
    Auch ein Foto von ihr muss dabei sein. Ich habe es im Parco Sempione in Mailand gemacht. Eines der seltenen Male, an denen sie es mir erlaubt hat. Ehe sie es sich anders überlegen konnte, hatte ich auf den Auslöser gedrückt.
    Bei der letzten Durchsicht der Wohnung habe ich es gefunden. Es steckte in einer orangefarbenen Mappe, zusammen mit sämtlichen Rezensionen meiner Bücher, den Kinoartikeln, den Entwürfen für meine neuen Geschichten, die ich ihm immer zu lesen gab, auch wenn ich keine Reaktion erhielt.
    Am Rand hatte er die Schwachstellen angestrichen. Kleine Anmerkungen, mögliche Korrekturen und Verbesserungen, stilistische Anregungen oder Lob für die Entwicklung einer Figur. Ein sorgfältiges, beständiges Lektorat, aufmerksam und still, von dem ich nie etwas erfahren hatte. Vielleicht aus Rücksicht auf meine Arbeit oder aus Angst, aufdringlich zu sein.
    Das Foto lag auf den

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