Bleiernes Schweigen
von meinem Vater Abschied.
Drei Tage sind seit seinem Tod vergangen, und noch immer habe ich nichts begriffen. Der Tod eines Elternteils oder einer Frau hinterlässt nur unstillbare Trauer und einen dumpf pochenden Schmerz, nicht das getan, gesagt oder empfunden zu haben, was man so einfach hätte tun, sagen oder empfinden können.
Ich sehe Giulia an.
Sie hat sich nicht in Schwarz gekleidet. Sie trägt einen dunkelblauen Mantel, hat das Haar zusammengebunden, und ihre Augen sind genauso rot wie bei ihrer Ankunft am Abend nach unserem Telefonat. Wir haben uns angesehen, sie vor der Tür, ich einen Schritt dahinter. Reglos, eingehüllt in die Stille ungesagter Worte.
Ich habe sie an mich gedrückt wie noch nie zuvor. Eine lange, stille Geste, ohne Tränen und Schluchzen, ohne zugeschnürte Kehle. Nur die Geste zweier sich wiederfindender Einsamkeiten. Die Vereinigung im Schmerz, die es bei Elenas Tod nicht geben konnte, entlädt sich jetzt, da sich völlig unversehens wieder alles ändert.
Ich gehe zu ihr, greife nach ihrer Hand, zusammen rauchen wir eine Zigarette.
Zwei Erwachsene, die sich ohne Klage und ohne Vorhaltungen, ohne Wut und ohne Groll in die Augen sehen. Wir murmeln Höflichkeiten und aufrichtigen Dank. Wir betrachten die verschneiten Bäume, die Menschen, die auf uns zuschlittern, die weißen Atemwolken in der Luft.
Sie weiß nichts von der Karte.
Nur Daniele und Andrea. Ihre Reaktion war identisch. Wenige, fast gleiche Worte, die keiner Entscheidung bedurften.
Daniele wird nicht kommen. Er hat mich heute morgen angerufen, die Straße ist unbefahrbar. Der Apennin ist ein einziger Eiswall, die Autobahn gesperrt.
»Es tut mir leid«, hat er gesagt, und es verstand sich von selbst, dass er nicht nur meinen Vater meinte. Doch Andrea ist da. Er ist keinen Moment vom Sarg gewichen, wie eine Ehrenwache. Reglos und mit verschränkten Armen steht er da, in einem Anzug, der fast genauso aussieht wie meiner, und lässt den Blick zwischen den Menschen und den geschlossenen Lidern meines Vaters hin- und herwandern.
Er sieht nicht mehr so aus, als ob er schläft. Der Tod bringt keine Entspannung, das Leben, das einen verlässt, wiegt mehr als die sprichwörtlichen paar Gramm der Seele. Mein Vater ist totes Fleisch, der Auflösung geweiht.
Alles andere ist nur ein Wunschtraum derer, die zurückbleiben.
»Wann fährst du wieder?«
Giulia hat mich untergehakt, während wir den Friedhof verlassen. Als sie meine Frage hört, senkt sie den Kopf.
»Es gibt einen Flug heute Abend, wenn …«
Ich streichle ihre Hand.
»Nimm ihn ruhig. Jetzt gehen wir nach Hause, essen was, und dann packst du deine Sachen und ich bringe dich zum Flughafen.«
»Echt, Papa, ich kann auch bleiben …«
»Kommt gar nicht in die Tüte.«
»Danke«, flüstert sie.
»Mach dir keine Sorgen.«
Schweigen. Bedächtige Schritte bis zum Parkplatz.
»Wirst du noch was schreiben?«
Ihre Stimme klingt wie damals, als sie klein war. Es gibt nichts mehr zu schreiben, will ich ihr antworten.
»Ich muss ein bisschen nachdenken«, antworte ich.
Sie nickt lange, als müsste sie der Bedeutung meiner Worte nachspüren.
»Der heutige Artikel«, hebt sie an. Sie bricht ab. Zögert. »Was geht eigentlich ab? Großvater …«
Ich bleibe stehen und nehme ihr Gesicht in die Hände.
»Opa hatte einen Herzinfarkt. Zu viel Anspannung. Zu viel Stress. Und er hat nie auf sich geachtet. Das weißt du.«
Sie sieht mich an, tut so, als würde sie mir glauben. Und ich beneide sie darum.
Im Auto ist nur das ferne Wispern des Radios zu hören.
Sie lässt mich vor einem Lebensmittelladen unweit meiner Wohnung halten.
»Geh schon nach oben, ich kauf noch was zu essen. Heute koche ich.«
Wortlos halte ich an. Ich sehe sie das Geschäft betreten, fahre weiter und parke vor der Haustür.
Das Telefon klingelt, als ich im Schlafzimmer bin.
»Vielleicht haben wir uns missverstanden«, sagt die Stimme. »Hier Falange Armata. Das nächste Mal gibt es keine Vorwarnung.«
Ich lege auf.
Lache aus vollem Hals.
Eine innere Explosion aus der Gleichgültigkeit, mit der ich die Worte gehört habe, und die sofort in haltloses Schluchzen übergeht.
Tränen, die nach Angst schmecken, die vom Tod meines Vaters und meiner Frau erzählen, vom all die Jahre unterdrückten Schmerz, der sich endlich Bahn gebrochen hat. Ich breche auf dem Bett zusammen, den Kopf ins Kissen vergraben, mein Atem ist ein würgendes Schluchzen. Ich drehe mich auf den Rücken, mit weit
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