Bleischwer
drehte sich um und flüchtete
sich in ihre Festung hinter der Forsythienhecke. Sie wollte endlich in Ruhe
frühstücken und Zeitung lesen.
›Schwerverbrecher
aus der JVA Köln ausgebrochen‹, schrien ihr förmlich die fetten Lettern
entgegen. Der Kaffeebecher verharrte auf dem Weg zum Mund in der Luft. Darunter
stand etwas kleiner: ›Der entflohene Mörder stammt er aus der Nähe von Bad
Münstereifel. Die Polizei mutmaßt deshalb, er könne in die Eifel geflüchtet
sein. Vor dem Ausbrecher wird eindringlich gewarnt. Er gilt als äußerst
gefährlich und gewaltbereit.‹
Jule
schluckte unbehaglich. Ein Schwerverbrecher hier in der Eifel, womöglich ganz
in der Nähe. Steinbach lag nur 15 Kilometer von Bad Münstereifel entfernt. Das konnte ja heiter
werden.
Sie
betrachtete das grobkörnige Foto. Der Mann sah völlig harmlos aus. Sein Blick
war eher erschrocken als aggressiv, aber was besagte das schon? Herzhaft biss
sie in ihr Brötchen mit Brombeermarmelade und schlug Seite 2 des Blattes auf.
›Stefan
Winter ist 48 Jahre alt, 1,80 m groß, dunkelhaarig und schlank und seit gestern
Abend flüchtig. Wegen bewaffneten Raubes, Geiselnahme und Mordes wurde er 1987
zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt.
Seitdem saß er in verschiedenen Haftanstalten ein. Er gilt als
schwerstkriminell. Von frühester Jugend an wurde er wegen verschiedenster
Gewaltdelikte straffällig … ‹
Erneut
beschlich Jule ein mulmiges Gefühl. Aufmerksam las sie den Artikel zu Ende. Die
Eltern des Mörders stammten aus Eichweiler, einem Nachbardorf Steinbachs.
Stefan Winter war in dieser Gegend aufgewachsen. Na ja, warum sollte er sich
ausgerechnet hierhin flüchten, versuchte sie sich selbst zu beruhigen. Wäre
ganz schön dumm. Es musste dem Mann doch klar sein, wo die Polizei zuallererst
suchen würde.
Sie
blätterte weiter und machte sich daran, das Kreuzworträtsel auf der letzten
Seite zu lösen. Um den Rücken zu entlasten, stopfte sie ein Kissen an die
schmerzende Stelle. Sie durfte nachher auf keinen Fall vergessen, ihre
krankengymnastischen Übungen zu machen, bevor sie zum alltäglichen
Waldspaziergang aufbrach.
Jule zog die Holzpforte hinter
sich zu. Vorsichtig atmete sie die beißend kalte Luft ein. Es war erst Mittag
und doch fielen bereits die ersten dicken Flocken. Sie schob die Mütze tiefer
ins Gesicht und schloss die Jacke bis zum Kinn. Entschlossen wanderte sie
Richtung Rezeption. Nebenbei registrierte sie, dass die Möllers aus Köln und
die Friedrichs aus Ratingen ihre Dauercampingplätze bezogen hatten. Sie sah
ihre Autos neben den Jägerzäunen stehen und Licht durch die Scheiben der
Caravans glimmen.
Beides
Ehepaare, fuhr es ihr durch den Kopf, kurz vor der Rente, ein halbes Leben lang
verheiratet. Das werde ich niemals schaffen, dachte sie zynisch. Wenn es
schwierig wird, haue ich ab. Sie schüttelte die unguten Gedanken ab, während
sie das Waschhaus passierte.
Wieder
entdeckte sie Micha, das Faktotum. Offenbar hatte er gerade die Mülleimer im
Herrenbereich geleert, denn er verließ mit vollen Plastikbeuteln in beiden
Händen das Gebäude. Sein Gesichtsausdruck war verschlossen wie immer. Ohne Jule
eines Blickes zu würdigen, stapfte er in Gummistiefeln zu dem Fahrrad, das er
neben der Außendusche abgestellt hatte, und warf die Müllsäcke zu den anderen
auf den Anhänger. Dann hielt er inne, um in der Seitentasche seiner Fleeceweste
zu kramen. Im nächsten Moment beobachtete sie, wie er einen Flachmann an die
Lippen führte und einen tiefen Schluck nahm.
Beschämt
trat sie in den Schatten einer Fichte. Micha hatte ihre Anwesenheit offenbar
nicht bemerkt. Ansonsten würde er hier nicht ungeniert Schnaps trinken. Sie
wartete ab, bis er die Flasche weggesteckt hatte, und näherte sich ihm.
»Hallo
Micha«, sprach sie zu dem breiten Rücken.
Langsam
drehte er sich zu ihr um.
»Hallo.«
Sein Lächeln war unsicher und kam von weit her. Verlegen wischte er sich die
Hände an der Arbeitshose ab.
Mit
welchen Geistern der Vergangenheit quält dieser Mann sich herum?, fragte sich
Jule nicht zum ersten Mal. Erst jetzt schien er zu begreifen, wen er vor sich
hatte.
»Ach,
Frau Maiwald. Richtig, Gerti hat gesagt, ich soll mal nach Ihrer Gasflasche
schauen.«
Sie
fand es unpassend, dass er sie siezte, sie ihn aber wie selbstverständlich beim
Vornamen rief. Tatsächlich kannte sie seinen Familiennamen überhaupt nicht. Für
alle hier im ›Eifelwind‹ war er bloß ›der
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