Bleischwer
Micha‹. Ob sie ihm im Gegenzug das Du
anbieten sollte? Doch dann würde sie sich vorkommen, als biedere sie sich an.
Also
beließ sie alles beim Alten und erwiderte: »Ja, das wäre nett. Besonders wenn
es wieder friert, sollte es die Heizung richtig tun. Ich gehe jetzt spazieren,
aber die Gartentür ist nicht abgeschlossen. Geh einfach aufs Grundstück, wenn
du Zeit hast. Du weißt ja, wie du an die Gasflasche kommst.«
»Okay,
aber … « Er zögerte sichtlich.
Sofort
ruderte sie zurück. Keineswegs wollte sie ihn drängen oder den Anschein
erwecken, seine Hilfsbereitschaft ausnutzen zu wollen. Sie winkte ab.
»Kein
Problem, falls du heute zu viel zu tun hast. Es eilt nicht … «
Er
schüttelte den Kopf, wobei er sich mit der Hand durch das feste, dunkelblonde
Haar fuhr. »Das hab ich nicht gemeint. Ich habe Zeit, kein Problem. Ich würde
bloß an Ihrer Stelle den Eingang zum Stellplatz nicht offen lassen. Nicht
gerade jetzt, aber egal … « Er hielt inne, schluckte, sah kurz zu Boden. Betreten, wie ihr
schien.
Verwirrt
runzelte Jule die Stirn. Wieso nicht gerade jetzt? Was war heute anders als in
den vergangenen vierzig Jahren? Die Dauercamper im ›Eifelwind‹ sperrten ihre
Grundstücke grundsätzlich nicht ab. Eine Handhabung, die durchaus Sinn ergab.
Denn es kam vor, dass Gerti und Hermann sich Zugang verschaffen mussten, weil
z. B. ein
Sturm einen Baum umgehauen hatte oder eine Wasserleitung durch den Frost
undicht geworden war. Schon hatte sie den Mund geöffnet, um nachzufragen, da
bemerkte sie Michaels verschlossenen Gesichtsausdruck. Sein Blick ging in die
Ferne, die Lippen waren fest zusammen gepresst. Klappe dicht, dachte sie,
Schotten zu. Sie schluckte ihre Frage herunter, setzte ein unverbindliches
Lächeln auf und verabschiedete sich. Komischer Kauz, überlegte sie, während sie
dem Ausgang des Campingplatzes zustrebte. Keine Ahnung, was in diesem Kopf vor
sich geht.
Der Wald erwartete sie
schweigend und in eisiger Starre. Das einzige, was sich außer ihr bewegte,
waren die immer dickeren Schneeflocken, die lautlos zu Boden tänzelten. Jule
atmete tief durch, während sie den gewundenen Pfad entlang ging. Er führte
steil bergauf. Jule kannte jeden Stein und jede Wurzel, die ihr wie
Treppenstufen den Aufstieg erleichterten. Bald durchschnitt ein glucksendes
Rinnsal den Pfad. Mit geübtem Schritt überquerte sie es. Staunend betrachtete
sie kurz darauf die Schneeglöckchen am Wegesrand, die vor wenigen Tagen noch
keine Blüten getragen hatten. Trotz der Kälte waren sie zarte Vorboten des
Frühlings, leise und schüchtern, aber verheißungsvoll. Plötzlich fühlte sie
Freude in sich aufsteigen.
Beginnendes
Leben macht immer froh, dachte sie, um im selben Moment erschrocken stehen zu
bleiben. Nein, nicht immer, korrigierte sie sich. Manchmal lässt es dich auch
nur verzweifeln. Ihr wurde schwindelig. Schluss jetzt, rief sie sich sofort zur
Ordnung. Hör auf damit. Sie konzentrierte sich nur noch auf ihre Schritte und
auf ihre Atmung, blendete sämtliche Gedanken aus.
Die
Bank auf der Anhöhe trug bereits einen dünnen Schneemantel. Jule wischte ein
Stück mit dem Ärmel der Winterjacke frei und setzte sich. Prompt schoss ihr der
Schmerz in den lädierten Lendenwirbel. Unwillkürlich stöhnte sie auf und
wartete, bis das Pochen abebbte.
Ihr
Blick fiel hinunter auf das Tal und den Campingplatz. Rechts hinter einem Hügel
lugte die windschiefe Spitze des Steinbacher Kirchturms hervor. Das Bild, das
sich ihr bot, hätte einer Postkarte entsprungen sein können. Trotz des
bleiernen Himmels strahlten die geschwungenen Hügel, mit Mischwald bewachsen
und von Lichtungen durchsetzt, sowie der Bachlauf ganz unten idyllische
Heiterkeit aus. Die zugewachsenen Dauercampingplätze mit den Wohnwagen, an die
erfinderisch diverse Schuppen und Lauben angebaut worden waren, und die
kastenförmigen Mobilheime wirkten wie winzig kleine Gehöfte eines verwunschenen
Dorfes. Und die weiten Wiesenflächen, auf denen in den Sommermonaten die
Touristen kampierten, erstrahlten im frischen Weiß des Neuschnees. Es ist eine
kleine heile Welt da unten, überlegte Jule. Ein Auenland. Genau die richtige Umgebung,
um selber heil zu werden. Allerdings schwante ihr inzwischen, dass Zeit und
Abgeschiedenheit allein nicht ausreichen würden, damit ihr Leben wieder ins Lot
kam. Über einen Monat war sie bereits hier und im Grunde genommen kein Stück
weiter gekommen. Lediglich ihrem Rücken ging es langsam
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