Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman
wünschte meiner Mutter frohe Weihnachten.
»Meine Weihnachten sind nicht mehr froh, mein Sohn«, sagte sie, »schon lange nicht mehr, also spare dir die Unverbindlichkeiten. Wie geht es dir? Nicht gut, wie ich höre. Ich spüre es durch die Leitung. Du atmest nicht frei. Es geht dir nicht gut, es ist besser, du kommst jetzt bald zurück. Die Russen bekommen dir nicht. Ich habe es befürchtet.«
Ich war ihr dankbar für ihre Schelte. Allmählich wußte ich wieder, wo ich war.
»Kannst du mir einen Gefallen tun, Mutter?«
Die Qualität der Leitung war erstaunlich gut. Es war, als säße sie hinter einem Paravent, als sie jetzt mit ihrer tiefen Stimme sagte: »Ich würde meinem Sohn nie einen Gefallen tun, ich würde mich schämen, schon beim bloßen Gedanken daran. Aber wenn ich dir helfen kann, dann sag es bitte, und ohne die ganzen Redereien um den heißen Brei. Bedenke, wie teuer das Telefonieren ist, vor allem wenn man fast vom Ural aus anruft.«
»Ich brauche eine Information. Es ist mit ziemlich viel Umständen für dich verbunden, Mutter. Ich möchte dich bitten, nach Doorn zu fahren. Dort gibt es ein Schlößchen, in dem der letzte deutsche Kaiser viele Jahre im Exil gelebt hat.«
»Ich weiß, von November 18 bis Juni 41.«
»Verrückt, woher weißt du so genau Bescheid, Mutter?«
»Sein Schicksal hat uns alle damals sehr bewegt. Als er starb, war ich fünfundzwanzig. Es war meine schönste Zeit mit deinem Vater, du warst noch nicht auf der Welt. Ich habe den Kaiser noch gesehen. Er war ein armer Kerl, ich glaube, er liebte nur seine Hunde. Warum soll ich also nach Doorn fahren?«
Ich steckte Münzen nach. »Mutter, fahre hin und gehe durch seine Räume, sein Arbeitszimmer, sein Schlafzimmer, sein Wohnzimmer, sieh dir alles an, die Bilder, die Möbel, die Teppiche, laß es auf dich wirken, und dann sage mir, was der deutsche Kaiser für ein Mensch war. Und versuche auch, einen Eindruck von seiner letzten Frau zu bekommen. Du kannst so etwas, ich weiß es. Ich rufe dich morgen abend wieder an.«
Die Münzen waren verbraucht, das Gespräch unterbrochen.
Schläfti mit seinem Frohes-Fest-Stirnband hatte die ganze Zeit vor der Telefonzelle Schmiere gestanden, wie er sich ausdrückte, und nichts Verdächtiges gemerkt. »Aber gerade das ist verdächtig«, sagte er. »Es dürfte nicht schwer sein, uns beide lange Lulatsche zu beschatten. Aber sie haben gar keine Lust dazu.«
»Wer sind ›sie‹?« fragte ich.
»Diese Leute«, sagte Schläfti. »Es sind keine besonderen Bösewichte. Aber es sind diese Leute, die immer etwas im Schilde führen. Anders sind sie nicht zufrieden. Komm, wir stärken uns erst mal.«
Im Mitropa-Restaurant war wieder die Hölle los. Der Kellner, der wie nach dem Lehrbuch ständig die Hand hinterm Rücken hielt, huschte zwischen den Tischen hin und her, um den Flüssigkeitspegel in vielen Gläsern zu erhalten. Schläfti wurde mit Hallo begrüßt. Auch ich erntete freundliche Blicke. Schläfti bestellte sich einen Kaffee und mir ein Bier. Wir saßen direkt an der Garderobe, halb versunken in muffig riechenden Wintermänteln. Es war so laut, daß wir brüllen mußten, um uns zu verständigen. »Der Boden ist heiß!« schrie Schläfti. »Du solltest dich verstecken.« Wir bestellten Leberknödel mit Pommes frites. »Ich kann dich leider nicht mit zu mir nehmen«, brüllte mein Freund. »Ich hab zuviel Besuch.«
An unserem Tisch saß ein Mensch, der mir jetzt erst auffiel. Er war schmächtig und hatte ein schiefes Gesicht, große Augen, die sehr aufmerksam beobachteten. Die wenigen Haare fielen ihm strähnig in die Stirn. Beim Trinken hielt er das Bierglas mit beiden Händen fest, ähnlich wie Schläfti. Als er sich erhob, um zur Toilette zu gehen, sah ich, wie verrenkt seine Gestalt war. Er bewegte sich eckig und schien Mühe zu haben, eine gerade Linie einzuhalten.
Als er zurück war, mischte er sich in unser Gespräch ein. Er hatte natürlich alles mitgehört.
»Ich weiß ein gutes Versteck für Sie«, sagte er mit einer Stimme, die kaum zu verstehen war. »Ich wohne im nächsten Ort. Da gibt es leerstehende Baracken. Sie gehörten einst zum KZ Buchenwald. Dort sucht Sie bestimmt niemand.«
Die Vorstellung war einigermaßen schauerlich. Schläfti reichte unserem Tischnachbarn die gebrochene Hand. »Du bist auch nicht gerade das blühende Leben«, sagte er. »Ich bin Vollinvalide, wie du«, sagte der andere. »Es gibt fast keinen Knochen in mir, den ich nicht schon bei einem
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