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Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman

Titel: Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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Anfall gebrochen habe. Und ich muß Windeln tragen, meine Schließmuskeln sind auch kaputt. Ich bin Epileptiker.«
    Er sagte es, als sei dies ein Verdienst, als gebühre ihm dafür wenigstens eine Tapferkeitsmedaille, und höchstwahrscheinlich verdiente er sie auch. Ich taufte ihn innerlich den »verrenkten Menschen«.
    »Das Gute an meinem Körper ist«, sagte der verrenkte Mensch, »daß ich nie in die Lage kam, mich fort aus diesem Land zu wünschen. Die Mauer existierte für mich nicht, sie war zu weit weg. Ich kann mich nicht weiter als ein paar Kilometer von meinem Haus entfernen. Auch der Abriß der Mauer existiert deshalb nicht für mich. Ich habe keinerlei Fluchtwünsche, weil es sich nicht lohnt, mit diesem Leib zu fliehen. Aber ich lese gerne. In Büchern kann ich noch am weitesten herumkommen. Leider ist der Buchladen hier geschlossen worden, wie man mir sagte. Der Buchhändler ist fortgezogen, heißt es. Das ist schade, denn der Mann war gut. Er hatte Bücher am Lager, mit denen man bis ans andere Ende der Welt reisen konnte.«
    »Der Mann ist mein Freund«, sagte ich. »Er ist noch hier. Aber er versteckt sich.«
    Das Essen kam, grau, fett, dampfend, mit zwei Salatblättern am Rand wie krause Entschuldigungen.
    »Ich wünsche guten Appetit«, sagte der verrenkte Mensch. »Sagen Sie Ihrem Freund, er kann zu mir kommen, ich habe Platz, wenn er sich verbergen will.«
    Draußen wurde es allmählich dunkel. Für Schläfti hieß das, daß er Alkoholika trinken durfte. Er holte seinen Rückstand schnell nach, indem er zum Tresen ging, sich zwei Bier zapfen ließ und sie mit je einem Doppelkorn herunterspülte. Dann gab er dem verrenkten Menschen und mir einen aus. »Du darfst auf keinen Fall zurück ins Hotel«, sagte er.
    Jemand griff in die Kleiderberge und zerrte sich einen Lodenmantel heraus. Ich sah eine rote, stark behaarte Hand. »Der war bei der Stasi«, sagte Schläfti, als der Mann gegangen war. »Jetzt ist er bei der Polizei.«
    »Fast alle Polizisten sind paramilitärisch ausgebildet«, sagte der verrenkte Mensch. »Ich würde mich nicht mit ihnen einlassen. Kommen Sie lieber mit mir, ich bringe Sie nach Buchenwald.«
    Ich hatte ein Gefühl im Magen, als hätten diese beiden Leberknödel ihre Form trotz Kauens behalten und rollten jetzt dampfend in meinen Gedärmen herum. Schläftis Stirnband mit seiner Aufschrift »Frohes Fest« sah unnatürlich nah aus, als hätte ich alles Empfindungsvermögen für Abstände verloren. Der Schnaps in meinem neu gefüllten Glas war ein See, in dem man ohne Probleme ertrinken konnte, die spastischen Bewegungen des verrenkten Menschen hinter den Rauchschlieren ließen mich daran denken, erneut in eine Breughelsche Hölle geraten zu sein, wo Abnormitäten und Monster die Inkarnation verderbter Gefühle sind.
    Ich sprang plötzlich auf und fingerte meine Jacke aus dem prallen Kleiderbündel der Mäntel an der Garderobe. Ich glaube, ich zerriß etliche Aufhänger dabei. Ich ging. Niemand hielt mich auf.
    Als ich draußen im Schneematsch ausschritt, kehrte ein wenig Hoffnung zurück. Obwohl mir klar war, wie betrunken ich war, schien mir mein Verstand zu arbeiten wie schon lange nicht mehr. Ich hatte ein Ziel. Es gab nur eine Richtung für meine Schritte, die Straße, in der Nadja wohnte.
    Die Nacht war hereingebrochen. Ich hatte keine Orientierungsmöglichkeiten, aber ich verfügte über den Kompaß der Sehnsucht nach einem Menschen, der mich lieben sollte. Ich rannte um Ecken, stolperte über Plätze, und plötzlich war ich vor ihrem Haus.
    Nirgendwo brannte Licht. Ich klingelte, was ich im nüchternen Zustand nie riskiert hätte. Niemand öffnete. Während ich in meinem verwirrten Zustand noch auf der Treppe stand, die zwei Marmorlöwen mit abgebrochenen Tatzen flankierten, hörte ich Schritte. Jemand kam immer näher. Es war ein leichter, rascher Schritt, wie ein zu schnelles Metronom. Ich drehte mich um und sah Nadja.
    Sie bemerkte mich erst, als sie den oberen Treppenabsatz erreicht hatte und dabei war, den Haustürschlüssel zu zücken. Sie stieß einen kleinen Schrei aus und hob die Arme, als erwarte sie eine Tätlichkeit. Ihre Augen schimmerten hell, trotz der Dunkelheit.
    »Haben Sie keine Angst, bitte, ich tue Ihnen nichts. Ich bin es, der Angst haben muß. Bitte, geben Sie mir die Gelegenheit, mit Ihnen zu reden.«
    Meine Stimme war zu einem Flüstern gesenkt. Ich schien sie überzeugt zu haben, denn sie schloß auf, trat zur Seite und ließ mich ein. Dann

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