Blindwütig: Roman
bescheiden. Warum das so ist, weiß ich nicht, aber vielleicht liegt es daran, dass man ständig auf der Straße angesprochen wird, wenn man sich regelmäßig im Fernsehen präsentiert. Das könnte eingebildet, wenn nicht gar arrogant machen.
Nach fünf Stunden im Radio hatte ich das Gefühl, kotzen zu müssen, wenn ich mich noch ein einziges Mal die Worte One O’Clock Jump sagen hörte. Wenn ich so viel Werbung für jedes neue Buch machen musste, dann würde ich irgendwann womöglich dazu übergehen, weiterhin welche zu schreiben, aber ihre Veröffentlichung erst nach meinem Tod zu erlauben.
Wenn man nie im Blickpunkt der Öffentlichkeit gestanden hat, um seine Arbeit wie ein Marktschreier an den Mann zu bringen, dann hält man eine solche Idee wahrscheinlich für ein wenig übertrieben. Aber ausgiebige Selbstvermarktung zehrt so an der Psyche, dass man nach einem solchen Medienmarathon Wochen braucht, um sich zu erholen und wieder erfreut in den Spiegel zu blicken.
Bücher zu schreiben, ohne sie zu publizieren, wäre allerdings nicht ungefährlich gewesen. Hätte Hudson »Hud« Jacklight, mein Agent, keine Aufträge mehr bekommen, so hätte
er höchstens bis zur Vollendung von drei unveröffentlichten Werken gewartet, bevor er mich umbringen ließ, um die Manuskripte vermarkten zu können.
Und wenn ich Hud so gut kannte, wie ich ihn zu kennen glaubte, dann hätte er den Killer nicht mit einem sauberen Schuss in den Hinterkopf beauftragt. Er hätte mich so spektakulär foltern und verstümmeln lassen, dass einer seiner Sachbuchautoren einen Bestseller über meinen Mord hätte schreiben können.
Hätte kein Verlag einen angemessen hohen Vorschuss für ein Buch über den ungelösten Mord an mir gezahlt, dann hätte Hud die Tat irgendjemandem in die Schuhe geschoben. Wahrscheinlich Penny, Milo und Lassie.
Jedenfalls erhob ich mich nach dem dreißigsten Interview voller Selbstekel von meinem Bürostuhl, um in die Küche zu trotten. Ich hatte vor, ein derart ungesundes Frühstück in mich hineinzuschaufeln, dass die Schuldgefühle wegen der darin enthaltenen Cholesterinmenge mich von meinen finsteren Gedanken ablenkten.
Netterweise hatte Penny mit ihrem Frühstück gewartet, damit sie mir Gesellschaft leisten und dabei all den unglaublich geistreichen Dingen lauschen konnte, die ich bei diesen dreißig Interviews liebend gern gesagt hätte, aber nicht über die Lippen gebracht hatte. In scharfem Kontrast zu meinem zerzausten Haar, meinem unrasierten Gesicht und meinem übel zerknitterten Pyjama trug sie eine frisch gebügelte weiße Bluse und zitronengelbe Slacks, und wie üblich leuchtete ihre Haut, als wäre sie durchsichtig und von innen her angestrahlt.
Als ich durch die Tür trat, servierte sie gerade Blaubeerpfannkuchen. »Du siehst zum Anbeißen aus«, sagte ich. »Man könnte dich glatt mit Ahornsirup begießen und lebendig auffressen.«
»Kannibalismus«, sagte Milo warnend, »ist ein Verbrechen.«
»Nicht überall auf der Welt«, gab ich zurück. »An manchen Orten ist so etwas gang und gäbe.«
»Es ist ein Verbrechen!« Er ließ sich partout nicht davon abbringen.
Zwischen seinem fünften und sechsten Geburtstag war Milo auf die Idee gekommen, später zur Polizei zu gehen. Zu viele Leute seien gesetzlos, meinte er, und die Welt würde von Verbrechern beherrscht. Wenn er einmal groß war, wollte er etwas dagegen unternehmen.
Viele Kinder wollen Polizist werden. Milo allerdings wollte nicht nur Direktor des FBI, sondern auch Verteidigungsminister werden, damit er die Macht hatte, Übeltätern im Inwie im Ausland das Handwerk zu legen.
Nun, kurz vor Ausbruch von Weltkrieg Waxx, hockte Milo auf einem hohen Küchenstuhl. Unter seinem Hintern lag ein dickes Schaumstoffkissen, weil er für sein Alter winzig war. Auf seinem weißen T-Shirt stand in blauen Blockbuchstaben COURAGE.
Später sollte uns das Wort auf seiner Brust wie ein Omen vorkommen …
Da mein Sohn sein Frühstück schon lange beendet hatte, saß er vor einem Glas Schokomilch und las ein Comicbuch. Er konnte Bücher jeder Sorte lesen und war an anderen Themen interessiert als andere Sechsjährige.
»Was ist denn das für ein Mist?«, fragte ich und griff nach dem Comic.
»Dostojewski«, antwortete er.
Stirnrunzelnd betrachtete ich die Titelillustration. »Wie kann man Schuld und Sühne bloß zu einem Comicbuch komprimieren?«
»Es handelt sich um eine Kassette mit sechsunddreißig
Doppelbänden«, sagte Penny. »Momentan ist er
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