Blutkirsche
faltenloses Gesicht wirkte mit einem Mal zerfurcht und alt. Sie erhob sich und schlurfte zurück in ihr Schlafzimmer.
Anne ließ ihre Mutter gehen. Es war zu viel für sie. Anne verstand es, trotzdem konnte sie ihre Mutter nicht in den Arm nehmen und trösten. |199| Weil Magda immer noch nicht die ganze Wahrheit erzählt hatte. Magda ahnte nicht, dass Anne ihr Tagebuch gefunden und gelesen hatte.
Heute Abend musste sie noch einmal mit ihrer Mutter reden, es war inzwischen schon Sonntag und zwei Uhr morgens.
Außerdem sollte sie früh ihren Dienst antreten, um einen vorläufigen Abschlussbericht des Mordfalls Kohl zu verfassen und noch drei Dinge erledigen, die zu diesem Kasus gehörten. Im Haus herrschte Stille, als sie erschöpft die Treppen in ihre Wohnung hinaufstieg.
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|200| 22
Anne hatte sich nicht angemeldet. Der zweistöckige Bungalow aus den Achtzigerjahren in der Wetterau, in dem Sieglinde und ihre Familie zur Miete wohnte, lag in einer Sackgasse. Der Vorgarten sah wenig liebevoll gestaltet aus und hob sich von den anderen, wie gestärkt und gebügelt aussehenden Vorgärten der übrigen Häuser in der Nachbarschaft ab. Eine Trauerweide ließ die Äste über den Eingang hängen. Sieglinde wohnte Parterre, im Gartengeschoss ihr Sohn, der Vermieter im ersten Stock.
Obwohl sie keinen offiziellen Auftrag hatte, zog Anne ihren Dienstausweis und zusätzlich die Polizeiplakette hervor, die an ihrem Schlüssel befestigt war. Achim, ihr Schwager, öffnete die Tür.
„Was soll das?“, brummte er verärgert.
„Ich möchte Sieglinde sprechen. Und da du weder auf meine Anrufe und SMS, noch auf meine Mails geantwortet hast, bin ich der Annahme, dass hier etwas nicht stimmt. Sieglinde kann sich nicht melden, weil du sie nicht lässt.“
„Ich glaube, du spinnst. Das hier ist nicht dein Revier, du bist hier überhaupt nicht zuständig! Aber überzeug dich selbst, dass meine Frau keine Gefangene ist, sie liegt im Wohnzimmer“, schnarrte Achim und gab widerwillig die Tür frei. Dann drehte er sich um und stapfte in den Keller.
Im Wohnzimmer herrschte Halbdunkel, da durch den unteren getönten Teil der Fensterscheiben nur spärlich Licht hereinkam. Es brannte kein Licht. Der düstere Eindruck wurde durch die braune Holzdecke und eine Klinkerwand verstärkt. Die obligatorische Schrankwand, diesmal in Schwarz, dominierte den ganzen Raum. Hier würde ich auch Depressionen bekommen, stellte Anne fest.
Auf dem Sofa lag Annes Schwester. Obwohl es fast schon Mittag war, hatte sie noch ein Nachthemd an. Als Erstes fielen Anne Sieglindes dick geschwollenen Beine und Füße auf.
„Du meine Güte“, entfuhr es ihr. „Du musst unbedingt zum Arzt!“
„Ach lass mich“, flüsterte Sieglinde. „Es ist sowieso zu spät.“
|201| „Auf keinen Fall lasse ich dich so liegen, wenn Achim nicht sieht, wie schlecht es dir geht, muss ich das in die Hand nehmen“, rief Anne empört.
„Achim kann nichts dafür, das ist meine Entscheidung“, sagte Sieglinde leise.
„Auch die Entscheidung, zu trinken?“, fragte Anne.
Sieglinde verzog trotzig ihr Gesicht und schwieg.
„Warum bist du denn nicht bei Mama geblieben? Wir hätten für dich gesorgt.“
„Ich konnte nicht, ich war fast froh, als Achim mich holen kam. Die Erinnerung an alles, das mit unserem Vater, und wie er Mama behandelt hat, war zu viel für mich! Ich dachte, ich könnte es aushalten. Aber je älter ich werde, desto mehr denke ich daran“, antwortete ihre Schwester. „Du weißt an welche Erinnerung?“
„Nein! An welche?“ Anne kannte die Antwort schon.
„Mich hat unser Vater ins Internat geschickt, damit ich nichts mitbekommen sollte, aber an manchen Wochenenden musste ich es mit ansehen, wie er unsere Mutter quälte, sie schlug, obwohl sie mit dir schwanger war. Gleichzeitig versuchte er mich zu beeinflussen, mit schönen Reden, machte mir Geschenke, drohte dann wieder, ja damit ich meinen Mund halte. Hat Mama dir von der Dachbodenkammer berichtet?“, fragte Sieglinde.
„Nein, gesagt hat sie mir gar nichts. Aber ich kenne die Geschichte!“, erwiderte Anne. „Soviel mir bekannt ist, sperrte er unsere Mutter dort in den ersten Monaten der Schwangerschaft tagsüber ein, während er in der Praxis behandelte. Er drohte, dir etwas anzutun, falls sie sich bemerkbar machen sollte. Die Patienten durften nichts mitbekommen.
Ich habe auch erfahren, warum er sie dort festhielt. Damit sie mich nicht abtreibt. Sie hatte es schon einmal versucht,
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