Blutkirsche
Chilisoße, Tortillas, Enchiladas, Frijoles – das rote Bohnenpüree, Maiskolben, gekocht oder gegrillt und in Bananenblättern serviert. Dazu frisch gepresste Obstsäfte, Kaffee oder heiße Schokolade der Tia Matilda.
Wie viele Einheimische aß Jorge morgens deftig viel. Anne fragte sich, wie er so schlank bleiben konnte.
Überwältigt vom Duft der überreifen Mangos, Papayas, Avocados und Melonen, daneben Dulces-Gebäck, Mandel-, Zitronen- und Schokoladenkuchen, nahm Anne wie benommen Platz.
Sie starrte zu den hinter Glas ausgestellten hochstockigen Hochzeitstorten mit kitschigem grellrosa und grünem Zuckerdekor. Die Kuchen sollten wohl Brautleute zum Kauf anlocken. Schwindelgefühl und Übelkeit überflutete sie. Als sie kaum etwas aß, fragte Jorge besorgt: „Que pasa, mi corazón? – Was ist passiert, mein Herz?“
Obwohl Anne noch keinen Test gemacht hatte, bemerkte sie die Zeichen und die Veränderung in ihrem Körper, spürte die Schwangerschaft vom ersten Tag an.
Sie sah keine Zukunft mit Jorge, sie würde nicht nach Mexiko auswandern und er ebenso nicht nach Deutschland. Ein Zusammenleben blieb ausgeschlossen. Außerdem war sie ja noch immer verheiratet! Ihrem Liebhaber hatte Anne weder von ihrem Ehemann erzählt, noch von ihrem Zustand. Als sie sich verabschiedeten, versprach Jorge, zu schreiben und anzurufen. Anne stieg ins Flugzeug, mit der Gewissheit, dies würde nie geschehen. Sie sah seinen traurigen
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Gesichtsausdruck, aber auch seine Erleichterung, dass sie keine Pläne mit ihm machte. Ihr Schmerz, als ob ihr das Herz herausgerissen und auf dem steinernen Chac Mool, dem großen Jaguar – halb Mensch, halb Tier – geopfert wurde, ließ kaum nach.
Als Jochen hinter Anne stand und ihre nackten Schultern berührte, überlief sie ein Kribbeln, eine Hitze, die sie bis in ihre Zehenspitzen spürte. Ihre kleinen Härchen an den Armen richteten sich auf. Sie drehte sich um.
Ihre Augen trafen sich, und Anne vergaß alle ihre Befürchtungen und Vorsätze und wurde unwillkürlich in Jochens Arme gezogen. Sie liebten sich und die Leidenschaft Jochens erfüllte Anne mit aller Heftigkeit. Sie ließ sich treiben und fallen.
Kein Gedanke mehr an den Mordfall, den Streit mit Günther und die Sorgen um Sieglinde, noch die bevorstehende Aussprache mit ihrer Mutter hinderten sie.
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Leise vor sich hinsummend, schloss Anne die Haustür auf. Sie schlich durch den hell erleuchteten Flur. Magda Wieland, auf dem Kopf Lockenwickler und in Nachthemd und Pantoffeln gekleidet, stürmte in heller Aufregung aus ihrem Schlafzimmer.
„Anne, wo bleibst du denn? Ich habe versucht, dich anzurufen, aber eine Frauenstimme hat mir gesagt, ich soll nach dem Piepton etwas sagen. Du weißt genau, dass ich nicht da hineinsprechen mag. Warum bist du nicht drangegangen?“
„Mama, weshalb bist du denn noch wach?“, versuchte Anne ihre Mutter zu beruhigen. „Was ist denn los? Warum regst du dich so auf? Darf ich noch nicht einmal mein Handy auf Mailbox umschalten?“
„Natürlich darfst du das, aber es ist wirklich wichtig! Weißt du etwas darüber?“
„Worüber?“, fragte Anne.
„Deine Freundin Miri hat mich besucht. Am nächsten Samstag soll vor unserem Haus ein Stolperstein als Erinnerung an Silberbaums ins Pflaster gelegt werden.“ Magdas Gesicht verzog sich weinerlich. „Jetzt kommt alles raus!“, klagte sie.
„Natürlich kommt alles raus, die Wahrheit kommt immer ans Licht!“ Anne reagierte verärgert. Ihr Glücksgefühl, das bis eben angehalten hatte, war verflogen und machte Unmut Platz.
„Du weißt das alles? Wer die Vorbesitzer des Hauses waren und von dem Kauf?“, fragte Magda irritiert.
„Lass uns in die Küche gehen, sonst wird Julian noch wach. Ich brauche jetzt einen Kaffee, besser noch zwei“, sagte Anne und zog ihre Mutter mit sich.
Magda Wieland setzte sich auf die Eckbank, während Anne das Kaffeepulver in den Filter gab und die Maschine mit Wasser füllte.
Gleich darauf erfüllte Kaffeeduft die Küche.
„Für mich kein Koffein auf die Nacht, aber vielleicht einen Sherry“, bestimmte Magda und schenkte sich großzügig aus der Flasche in ein Glas ein. „Woher weißt du Bescheid?“, fragte sie.
|197| Anne atmete tief durch, so übermüdet wollte sie eigentlich die Aussprache mit ihrer Mutter auf einen günstigeren Zeitpunkt legen, aber vielleicht gab es keinen günstigen Zeitpunkt.
„Ich habe auf dem Speicher die Unterlagen über die
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