Blutkirsche
denn sie wollte kein Kind von Hans, diesem schrecklichen Nazi-Verbrecher.“
Anne vermied es ‚Vater‘ zu sagen, nur mit Widerwillen dachte sie daran, dass sie ihn einmal voller Sehnsucht vermisst hatte.
Wie sie auch die Liebe ihrer Mutter vermisst hatte, die den Hass auf ihren Mann auf ihr eigenes Kind projizierte und ihr, Anne, mit Kälte begegnete.
„Wieso Nazi-Verbrecher? Was meinst du damit?“ Sieglinde war sichtlich erregt.
„Ach, den Teil kennst du nicht?“
|202| „Ich weiß nur, dass einmal die amerikanische Militärpolizei bei uns in der Tür stand, aber da sie unseren Vater nicht fanden, sind sie unverrichteter Dinge wieder abgezogen. Mama hat dann gesagt, unser Vater würde lange verreisen.“
„Verreisen? Schöner Ausdruck für Verhaftung und Verurteilung wegen Verbrechen an der Menschlichkeit!“, rief Anne empört aus.
„Oh, lassen wir das jetzt, unser Gespräch hat mich wirklich angestrengt“, sagte Sieglinde betroffen. „Ich bin so müde.“ Sie schloss die Augen. Es sah aus, als ob sie schlummerte.
Ja, verschließ’ nur deine Augen, dachte Anne. Nur nicht darüber nachdenken!
Da Sieglinde nicht weiterfragte, überlegte Anne. Sollte sie ihr die Prozessakten zeigen? Wohl eher nicht. Dass Magda selbst ihrem Liebling nicht die Wahrheit gesagt hatte, erstaunte sie. Vielleicht wusste Sieglinde überhaupt nicht, dass Hans nicht ihr biologischer Vater war? Dass Sigismund, der Soldat, der in Stalingrad fiel, sie in seinem letzten Heimaturlaub gezeugt hatte? Zumindest hätte sie fragen müssen, warum Hans und Magda erst ein Jahr nach ihrer Geburt heirateten. Den Auszug aus dem Stammbuch mit ihrer Geburtsurkunde und den anderen Eintragungen hatte sie doch bekommen, als sie selbst eine Familie gründete.
Ihre Schwester schlug die Augen auf. „Als du geboren warst, Anne, durfte ich wieder nach Hause. Aber meine Noten waren so schlecht durch die ganze Sache geworden, dass ich mehrfach Klassen wiederholen musste. Ich konnte kein Abitur machen, nicht studieren und wurde dann Schneiderin. Ich will mich ja nicht beklagen. Aber ich habe dich immer um alles beneidet, um deinen Erfolg, um deinen Mann“, erklärte Sieglinde.
„Du hast mich beneidet? Du, die unsere Mutter immer bevorzugt und geliebt hat?“, sagte Anne bitter.
„Sie hat dich genauso geliebt, denke ich mal. Nur konnte sie es am Anfang nicht so zeigen. Erst als unser Vater tot war, hat sie dich geherzt, dir Lieder vorgesungen und mit dir gespielt. Vorher habe ich das gemacht.“
Anne schwieg, ihre Erinnerung sagte ihr etwas anderes. Konnte sie sich so getäuscht haben? Oder hatte sich ihre Enttäuschung in den ersten sechs Lebensjahren so verfestigt, dass alle anderen Erfahrungen überschattet wurden?
„Waren wir daheim, als Hans starb?“ Diese Frage beschäftigte Anne schon eine Weile, seitdem sie das Tagebuch ihrer Mutter gelesen hatte.
|203| „Ja, warum?“
„Nun, ich möchte einfach mehr darüber erfahren, ich kann mich daran nicht mehr erinnern“, entgegnete Anne.
„Lass mich mal nachdenken. Soviel ich noch weiß, haben wir zu Abend gegessen. Es waren Pilze, die Mama und ich vorher im Wald am Lemberg gesammelt haben. Du hast nicht mitgegessen, Mama hat dir Hühnersuppe eingeflößt, weil du Fieber hattest und im Bett lagst.
Vater ist nach dem Essen in sein Arbeitszimmer gegangen, wollte noch lesen. Dort stand auch sein Bett. Mama ging ins eheliche Schlafzimmer. Du warst nebenan im Kinderbettchen. In der Nacht habe ich Vater – Hans laut stöhnen gehört, mir aber nichts dabei gedacht. Am Morgen lag er tot in seinem Arbeitszimmer auf dem Boden. Er muss wohl noch aufgestanden sein, schaffte es aber dann nicht mehr zu uns oder bis zum Telefon in der Praxis. Ein Kollege von ihm trug dann plötzlichen Herztod in den Totenschein ein.“
„Und warum hat Mama ihn nicht gehört?“, hakte Anne nach.
Sieglinde zog ihre Nase und Stirn kraus. „Keine Ahnung, wahrscheinlich schlief sie zu fest.“
Also damals schlief sie anscheinend gut, überlegte Anne. „Lag da Erbrochenes rum?“
„Nein, glaube ich nicht. Aber so genau kann ich mich nicht mehr erinnern.“
„Und du und Mama hattet keine Beschwerden? Seid ihr nicht krank geworden?“
„Nein, wie meinst du das?“
„Ach nur so“, sagte Anne.
Sieglinde stutzte. „Was willst du damit sagen?“
„Nichts!“ Anne verschwieg ihren Verdacht, sicher regte sich Sieglinde noch mehr auf. Vor allen Dingen kannte Anne noch immer nicht den wahren Grund ihrer
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