Blutkirsche
Selbstbewusstsein zu haben und ihr Jochen nachher versicherte, sie sei mit Abstand die Schönste und Bestangezogene an diesem Abend gewesen, hatte sie sich unwohl gefühlt. Jochen meinte nur, sie solle sich nicht darüber ärgern, außerdem sei das weibliche Geschlecht öfter neidisch – er verwendete das Wort ‚bissige Stuten‘ – und von den hier Anwesenden seien richtige Paradebeispiele dieser Gattung dabei. Außerdem seien es nicht wirklich enge Freunde gewesen, sondern Leute, bei denen er selbst einmal Gast gewesen sei, und er sich deshalb verpflichtet gefühlt hatte. Es gäbe aber keinen Grund, diese Verpflichtung ein zweites Mal einzugehen.
Heute sollte es nur ein kleines Abendessen sein, trotzdem wollte Anne perfekt angezogen sein.
Der Gastgeber erwartete sie an der Haustür. Diesmal nicht im Anzug, sondern nur mit schwarzer Hose, schwarzen Schuhen und einem weißen Hemd bekleidet. Keine Krawatte. Ein Hemdknopf stand offen und Anne sah auf die gebräunte Haut des Staatsanwaltes.
|193| „Hallo, Anne. Schön, dass du da bist, komm rein.“ Wenn auch Anne noch kurz vorher unschlüssig gewesen war, diese Einladung anzunehmen, verflogen ihre Bedenken augenblicklich beim Anblick Jochens. Auf dem Esszimmertisch lagen nur zwei Gedecke.
„Ist sonst niemand da?“, fragte Anne überrascht. Sie musste sich eingestehen, dass sie insgeheim gehofft hatte, Jochen allein zu treffen.
„Ja sicher. Hatte ich das nicht gesagt?“, erwiderte Jochen. „Nimm bitte Platz.“ Anne setzte sich auf das dunkelbraune, mit einem Tweedstoff bezogene Sofa. Aus den Boxen der Hi-Fi-Anlage ertönte leise klassische Musik. Opernmusik. La Traviata. Neben dem Ruhesessel aus schwarzem Leder lag auf dem Beistelltisch ein aufgeschlagenes Buch. Also fand Jochen zwischen dem Kochen noch Muße zu lesen! Es war bestimmt keine Show, soweit glaubte Anne ihn zu kennen.
„Das riecht aber schon gut.“ Anne schnupperte, weil es aus der Küchenzeile heraus nach Chili und Schokolade roch.
„Einen Augenblick dauert es noch, vorher einen Aperitif?“, fragte Jochen. „Margarita?“
Anne nickte: „Gerne“, und blickte sich um. Jochen hatte nichts geändert. Seine Einrichtung folgte den Richtlinien der Bauhausarchitekten. Um den Esstisch aus Glas standen verchromte Stühle, deren Bugholzrahmen wie ein S geformt war. Rückenlehnen und Sitze bespannte ein Rohrgeflecht.
Die übrigen Möbel der Wohnräume und der Küche hielten sich an den zeitlosen Stil. Witzigerweise hing in der Küche eine Original Schwarzwälder Kuckucksuhr, der Vogel rief jede volle Stunde. Zwei große Ölgemälde eines deutschen Künstlers, der in Cannero am Lago Maggiore lebte, und den Anne mit Jochen einmal in seinem Atelier besucht hatte, lockerten mit seinen ‚Betrunkenen Hühnern‘ im Treppenaufgang und Wohnzimmer den gradlinigen Gesamteindruck auf, fügten sich aber trotzdem harmonisch ein.
Aus einem Krug goss Jochen den Cocktail von zerstoßenen Eiswürfeln, Tequilla und Limettensaft in bereitgestellte Gläser mit Salzrand ein. „Auf deinen Erfolg, Anne“, prostete er ihr zu.
„Vielen Dank, aber ich war da nicht alleine beteiligt“, entgegnete Anne.
„Ja ich weiß, trotzdem bin ich froh, dass dir bei deiner riskanten Verfolgungsjagd nichts passiert ist! Was hast du dir dabei gedacht? Das hätte auch schiefgehen können“, sagte Jochen.
|194| „Ist aber nicht. Ich habe in dem Augenblick überhaupt nichts dabei gedacht, sondern nur funktioniert. Aber bitte heute keine beruflichen Gespräche mehr“, bat Anne. Sie wollte den Abend genießen.
Ein wenig später servierte Jochen zum Chardonnay aus Kalifornien das Essen: Mole poblana de pollo – Huhn in Schokoladensoße mit Tortillas, das mexikanische Nationalgericht, ein Guacamole Dip von Avocados, dazu Maiskolben in gedünsteten Bananenblättern.
Am Tag vor ihrer Abreise frühstückte Anne in Mexiko-Stadt mit Jorge Guzmán im Kaufhaus Sanborns. Die leuchtend blauen Azulejos-Kacheln an den Wänden des Saales verströmten eine kühle Frische, an der Decke surrten mehrere Ventilatoren. Wie in allen Hotels und Restaurants hing auch hier in einer Ecke der Fernseher und lief, wenn auch ohne Ton. Es gab kontinentales Frühstück – Toast mit Marmelade oder Schinken und Ei, Orangensaft – aber den Großteil des Büffets machten die mexikanischen warmen Speisen aus.
Die Auswahl hatte Anne immer wieder überrascht. Verschiedene Fleischsorten mit Chili, Huhn mit Koriander, Fisch mit grünen Tomatillos und
Weitere Kostenlose Bücher