Blutlinie
1. Ich bin einsam! Na und, selbst schuld!
Als ich kurz vor sieben Uhr abends durch die Fenster der Buchhandlung nach draußen schaute, fröstelte es mich. Ich hatte eigentlich keinen Grund zu frieren, stand ich doch in meinem beheizten Laden, umgeben von unendlich vielen Büchern, die meine Leidenschaft waren. Ich liebte sie geradezu, den eigentümlichen Geruch, das Umblättern der Seiten, die kunstvoll gestalteten Titelbilder und natürlich die wunderschönen, aber auch traurigen Geschichten, die ihnen innewohnten. Sie konnten bewirken, dass wir selbst noch im Bett liegend schmunzelten, eine Woche traurig waren oder gar den Schlaf vernachlässigten, nur um zu wissen, wie das nächste Kapitel anfing. Lesen war für mich eine Droge, ein geheimer Weg aus dem tristen Alltag, der mich jeden Tag verfolgte und zu sagen schien: ‚Hey, warum betreibst du täglich eine solche Gedankenflucht, Mädchen? Nimm doch mal dein Leben in die Hand! Du hast schließlich nur eins!’
Und wenn ich diese blecherne Stimme noch so oft in mir hörte, sie war mir so was von egal! Sie konnte mich mal! Ich bestimmte über mein Leben! Und wenn ich wie eine mausgraue Buchhändlerin dahinvegetieren wollte – die ich eigentlich nicht war – dann sollte es eben so sein. Ich sah schon die Schlagzeilen vor mir:
‚Virginia Dawson wurde in ihrem eigenen Laden unter Hunderten von Büchern gefunden. Dabei hatte sie doch den Leuten erzählt, dass sie in den Urlaub fahren wollte. Und nun entdeckte man ihre Leiche über Jane Austens „Stolz und Vorurteil“. Offenbar war sie Fitzwilliam Darcy verfallen, denn ihr Finger zeigte starr auf den Namen, als man sie auf dem Buch, mit dem Kopf liegend, in dieser schrecklichen Position, fand. Armes Mädchen! Dabei war sie doch so beliebt, jedoch hatte niemand ihren stillen Tod bemerkt.’
Ich rief mich wieder zur Ordnung, als am Schaufenster Mrs. Perkins vorbeikam und mir zuwinkte. Ich lächelte sie an. Sie war eine resolute Frau, die bei mir Unmengen von Backbüchern bestellte und ihre neuesten Kreationen zum Kosten vorbeibrachte. Ich musste unumwunden zugeben, dass sie mit einem wahnsinnigen Talent gesegnet war. Ihre Torten, Kuchen und Muffins waren Gift für die Hüften und küssten gleichzeitig meinen Gaumen. Ihre Vanille-Apfel-Kekse mochte ich am liebsten. Hin und wieder brachte sie mir eine Blechdose voll damit vorbei. Ich saß dann abends mampfend vor dem Fernseher und ehe ich mich versehen hatte, war das süße Gebäck schon wieder verputzt. Ich konnte froh sein, dass bei mir solche Leckereien nicht so schnell ansetzten, so wenig wie ich mich bewegte. Ich schien mit meinem gemütlichen Sofa verwachsen zu sein.
Meine tägliche, zurückgelegte Strecke variierte kaum. Ich stand auf, begab mich in das Geschäft und ging nach Ladenschluss wieder nach Hause. Der Weg betrug nicht einmal zehn Gehminuten; manchmal kaufte ich noch ein, und an den Wochenenden ließ ich mich gern an andere Orte treiben. Die einzige Bezugsperson, die ich hatte, war Mary, die in einem kleinen Café arbeitete, das sich Little Roses nannte. Wir hatten uns, nachdem ich dort mehrmals einen Latte Macchiato getrunken hatte, kennengelernt. Sie hatte mich einfach angesprochen und sich in ihrer Pause zu mir gesetzt. Es war eigenartig, aber ich vertraute ihr nach einiger Zeit und gewann eine echte Freundin. Vor ungefähr 18 Monaten war sie hierher gezogen, nachdem sie sich von ihrem Freund getrennt hatte.
Mary war ein kleiner Wirbelwind, der das Leben liebte und gern tanzen und feiern ging. Hin und wieder ließ ich mich breitschlagen und begleitete sie zu dem unkontrollierten Abhüpfen, wie ich es gern nannte, und so schlecht tanzen konnte ich ja nun auch nicht. Mary gab mir Halt, brachte mich zum Lachen, war für mich da, so wie ich für sie. Wenn sie mal wieder eine gescheiterte Beziehung hinter sich gebracht hatte, heulte sie sich bei mir aus. Sie machte mir dann das Geschenk, meine Lieblingsfilme mit mir anzuschauen. Wir lümmelten auf meinem großen Sofa, veranstalteten eine Art Pyjama-Party für Twens, mit ganz viel selbstgemachter Pizza und Wein und gackerten die ganze Zeit über irgendwas. Und an diesen Abenden fühlte ich mich glücklich und frei, was auch an ihren Kommentaren lag.
„Wann gehen die denn endlich zusammen ins Bett?“, fragte sie unaufhörlich und drehte ihre braunen Locken zum wiederholten Male zwischen den Fingern.
„Mary, das ist ein romantischer Herz-Schmerz-Film. Die bekommen sich erst am Ende.“
Sie
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