Blutrose
kälter. Der Mann spielt mit seinen Fingern im Haar der Frau. Sie sinkt gegen ihn. Das weiche
Wiegen ihrer Körper wirkt wie ein Spiegelbild der Wüste, die sich um sie herum ausbreitet. Als sie eingeschlafen sind, geht der alte Mann mit Oscar zu dem niedergebrannten Feuer. Im Schlaf hat die Frau dem Mann den Rücken zugedreht, seine Hand ruht auf ihrer Hüfte. Oscar kennt sie, diese Frau. Es ist die Frau, die seine Gedanken lesen kann. Es ist Clare. Er hat sie schon einmal beim Schlafen beobachtet, als er vor ihrem Fenster stand und ein Herz in den Hauch zeichnete, den sein Atem auf dem Glas hinterließ.
Spyt geht in die Hocke und hält Oscars Hand ganz dicht vor ihren Mund. Ihr Atem streicht warm über seine Handfläche.
Während der Mond in hohem Bogen steigt und im Westen wieder fällt, um zuletzt im Ozean zu versinken, schneidet der kalte Wüstenwind durch das Tal und bringt die trockenen Gräser zum Rascheln. Clare dreht sich zu dem schlafenden Mann um; Oscar stellt sich vor, wie ihre Brüste weich auf seinen Brustkorb drücken und wie sie sich aneinander wärmen. Spyt nimmt seine Hand, und die beiden gehen fort. Der Mann und die Frau werden nach Kapstadt fahren, und Oscar wird mit der schützenden Wüste verschmelzen.
Ein Schakal heult auf und entfaltet die rosige Morgendämmerung.
Kurze Chronik von Walvis Bay
Walvis Bay – deutsch »Walfischbucht« – ist Namibias einziger Hochseehafen. Die Stadt liegt an der Mündung des nur sporadisch fließenden Kuiseb. Dieser unterirdisch verlaufende Fluss zeigt sich als langgestreckte Oase, die unzählige Pflanzenarten, Tiere und Menschen beheimatet, und gebietet dem rastlos wandernden, von Süden herandrängenden Sandmeer der Namibwüste Einhalt.
Die Stadt ist von der Umwelt abgeschnitten: Im Süden liegt das »Sperrgebied«, das jahrelang nicht betreten werden durfte und in dem über ein Jahrhundert lang Diamanten abgebaut wurden. Im Norden erstreckt sich die Skelettküste. In der unberührten Schönheit dieser mehrere hundert Kilometer langen Einöde aus Meer, Himmel und Sand lösen sich zahllose gestrandete Schiffe in ihre Bestandteile auf.
Seit über fünftausend Jahren leben Menschen in und um Walvis Bay. Jäger und Sammler, Urahnen der Topnaar, die immer noch am Kuiseb leben, fischten und ernteten die Nara-Pflanze, so wie es die Topnaars noch heute tun.
Die Portugiesen tauften den Hafen »Bahia das Baleas«, Bucht der Walfische. Diego Cao errichtete im Norden, beim Kreuzkap, ein steinernes Kreuz, segelte aber weiter, ohne die abweisenden und wasserlosen Landgebiete in Besitz zu nehmen. Während der Blütezeit des Walfangs im achtzehnten Jahrhundert füllten amerikanische Walfänger die Bucht und dezimierten die Tiere, die der Bucht ihren Namen gegeben hatten.
1793 wurde Walvis Bay von den Holländern besetzt, doch schon 1795 eroberten die Briten das Kap der Guten Hoffnung
und beanspruchten damit den Hafen. Dennoch wurden Walvis Bay, inzwischen ein lebendiger Handelshafen, sowie das umliegende Land erst 1878 offiziell von Großbritannien annektiert. 1884, auf dem hysterischen Höhepunkt des kolonialen »Wettlaufes um Afrika«, wurde das heutige Namibia von Deutschland in Besitz genommen. Allerdings erklärten die Briten Walvis Bay zu einem Teil der Kapkolonie, wodurch es eine winzige britische Enklave blieb, bis 1915 die südafrikanischen Truppen Deutsch-Südwestafrika eroberten und es unter Militärverwaltung stellten. Nach der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg bekam Südafrika, damals noch eine britische Kolonie, 1920 vom Völkerbund das Mandat für Deutsch-Südwestafrika übertragen. Walvis Bay wurde in das übrige Territorium eingegliedert, das fortan »Protektorat Südwestafrika« hieß. Die südafrikanischen Rassegesetze wurden mitsamt dem Wanderarbeitersystem auf das gesamte Territorium angewendet, Walvis Bay eingeschlossen.
Walvis Bay war für Südafrika von großer strategischer Bedeutung, weshalb 1962, als der innere und internationale Widerstand gegen die südafrikanische Apartheid wuchs, hier eine Militärbasis eingerichtet wurde – teilweise in der Stadt, größtenteils jedoch in der Wüste. 1977 zeichnete sich ab, dass Südafrika die Kontrolle über das Territorium würde aufgeben müssen. Die Südafrikaner ernannten einen Generaladministrator für Südwestafrika/Namibia (wie das Territorium fortan genannt wurde). Am selben Tag annektierten sie Walvis Bay und rechtfertigten das mit der britischen Annexion im Namen der Kapkolonie
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