Blutschwestern
nicht, dass eine andere für mich stirbt!«
»Still!«, vernahm sie leise die Stimme Ilanas. »Es ist geschehen; du wirst leben, und eine andere wird dafür sterben. Sie
sind heuchlerisch – hatten sie Mitleid mit dir oder mit dem Mädchen, das fliehen wollte? Sie haben verlernt, Mitleid zu empfinden,
sie buckeln und kriechen vor Muruk, sie hetzen untereinander. Lass sie den Schmerz am eigenen Leib erfahren, damit ihr Stumpfsinn
endlich vergeht.«
Nona war verwundert über die Härte, mit der Ilana ihr Urteil sprach, doch auch jetzt zitterte die Hand der Königin. Ilana
hasste Muruk, Sasalor und die Blutopfer ebenso wie Nona. Ihre Stimme wurde weich und mild. »Bleib an meiner Seite, ich bin
ebenso allein wie du.«
Nona erwiderte den Händedruck und fing den eifersüchtigen Blick Akaris auf. Ilana wandte sich an ihre Schwester. »Berufe auch
eine von ihnen in dein Gefolge, Schwester!«
Akari schüttelte den Kopf. »Ich will keinen Ärger mit Sasalor. Es war dumm von dir, die da zu retten, wenn ja doch eine andere
dafür sterben muss. Sie hätte sich ihrer Bestimmung stellen sollen, wie wir alle es tun. Was willst du mit ihr in deinem Gefolge?
Sie besitzt keinen Mut und keine Ehre!« Akaris’ dunkle Augen funkelten Nona voller Verachtung an.
Ilana wollte etwas erwidern, doch ihre Unterhaltung wurde von den verzweifelten Schreien der Mutter unterbrochen, als Sasalor
ihrer Tochter die Kehle durchtrennte. Nonas Augen wanderten zu Apat und Denala, die als Nächste an der Reihe waren. Ihre Blicke
trafen sich, Nona fühlte sich geringer als jemals zuvor in ihrem Leben, doch die Augen der beiden Freundinnen schienen zu
ihr zu sprechen.
Lebe, Nona! Die Göttin hat dir zugelächelt, sende Gebete für uns in das dunkle Reich, bitte die Göttin darum, unser Los erträglich
zu machen und uns bald zu befreien.
Nona sandte ihre Antwort mit den Augen zu ihren Freundinnen, |39| und Ilana flüsterte ihr zu: »Sind sie Gefährtinnen von dir?«
»Ja«, bekannte Nona nur knapp, da Trauer und Scham ihr die Kehle zuschnürten.
»Ich werde nun deine Gefährtin sein, und du die meine. Wir haben nur noch uns!«
Wieder sandte Akari einen eifersüchtigen Blick in Nonas Richtung, den Nona bemüht war zu übersehen. Ilana war augenscheinlich
die Stärkere der beiden. Sie sandte ein warmes Lächeln an Akari, deren Züge sich schließlich entspannten und die den liebevollen
Blick der Schwester erwiderte. Kurz darauf sackte zuerst Denala unter Sasalors Dolch zusammen und dann auch Apat. Nona, die
gegen ihre Tränen ankämpfte, ließ Ilanas Hand nicht los.
Als schließlich das letzte Mädchen tot im Sand lag und der Opferkreis von Blut getränkt war, sandte Sasalor ein letztes Gebet
an Muruk. »Nimm sie, größter aller Götter, sie sind dein, füge sie in deine Heerscharen ein, lass sie in deinen blutigen Schlachten
kämpfen.«
Die Hochrufe der Engilianer blieben aus. Anscheinend hatte die Macht Muruks, die an dieser Sommerwende so überraschend jemanden
aus ihren Reihen getroffen hatte, die dumpfe Stimmung, in welcher sie sich in Sicherheit wiegten, aufgerieben. Sie wussten
nun – es konnte jeden von ihnen treffen, ob er auserwählt war oder nicht.
Nach einer Weile begann sich die Menge der Schaulustigen jedoch nach und nach aufzulösen. Es gab nichts mehr zu sehen, die
Körper der Mädchen wurden bereits von den Priestern weggeschafft, um auf einem Scheiterhaufen verbrannt zu werden. Die Sonne
brannte mittlerweile heiß vom Himmel, und Ilana erhob sich langsam von ihrem Thron.
»Es war schrecklich«, flüsterte sie Nona zu. »Wir kehren zurück in mein Haus bis zum Abend. Dann werden die Alten Frauen der
Wälder verkünden, ob Akari oder ich Engil verlassen muss.« Sie |40| schenkte ihrer Schwester ein aufmunterndes Lächeln und nahm Akaris Hand. »Ich wünschte, wir könnten zusammen bleiben, Akari.
Ich will das alles nicht.« Akari schluckte ihre Eifersucht hinunter und drückte die Hand Ilanas. »Wir werden uns nicht gegenseitig
verraten, Schwester. Egal auf welche von uns die Wahl fällt. Unsere Liebe zueinander ist stark genug. Wir werden den Fluch
Muruks brechen!«
Ilana nickte ihr zu. »Ich bete zu Sala dafür, dass es so ist. Dass wir stark genug dafür sein werden, Schwester.« Dann wandte
sie sich wieder an Nona. »Bleib an meiner Seite, du gehörst nun zu meinem Gefolge.«
Nona wich Akaris wütenden Funkelaugen aus.
Ja, Akari … ich besitze keinen Mut, ich hänge an
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