Blutschwestern
Gewissen plagte, setzte sie einen
Schritt vor den anderen. Sie wollte nur hinaus aus dem Blutkreis.
Ich habe meine Schwestern verraten. Ich bin zu feige, um meine Bestimmung zu erfüllen.
Nona warf einen letzten traurigen Blick auf Tacha, die bereits in Muruks Reich weilte und sicherlich dort auf Nona wartete.
Leise sprach sie eine Entschuldigung in Richtung der Toten. »Verzeih mir, Tacha, dass ich dich allein lasse. Ich bin einfach
nicht mutig genug. Auch wenn meine einzige ehrenvolle |36| Bestimmung in meinem Opfertod lag … ich hänge zu sehr an meinem armseligen Leben.« Dann ging sie hinüber zu Ilana und wagte
es kaum, ihr zuzulächeln oder sich zu bedanken. Stattdessen wurde sie von einer Dienerin harsch angewiesen, sich hinter Ilanas
Thron zu stellen.
Sasalor wandte sich erneut an Liandra. »Und was tun wir nun? Wir brauchen das neunte Mädchen.«
Liandra trat zu ihm, und sie berieten sich eine Weile. Nona spürte, wie Ilana nach ihrer Hand griff. »Ich danke dir«, flüsterte
sie der Königin zu, und Ilana drückte Nonas Hand noch inniger. In diesem Augenblick spürte Nona, dass ihre Schicksale miteinander
verwoben waren und sich ein unsichtbares Band zwischen ihnen zu spannen begann. Was immer auch geschehen mochte, Nona würde
Ilana für ihr beherztes Einschreiten für immer dankbar sein. Ilana hatte sie, die in den Augen aller gering war, vor dem grausamen
Opfertod gerettet. Was Ilana dafür auch verlangte – Nona würde es tun!
Schließlich traten Liandra und Sasalor gemeinsam vor und riefen in die Menge. »Mütter von Engil. Welche von euch hat eine
Tochter, die am heutigen Tage geboren ist und noch von keinem Mann berührt wurde?«
Die Menge schwieg wie alter Stein. Keine der Frauen wollte ihre eigene Tochter preisgeben. Die Blutschwestern waren seit ihrer
Geburt zu Opfern Muruks auserkoren, doch ihre Töchter sollte dieses Schicksal nicht ereilen.
Sasalor wurde ungeduldig. »Was ist, ihr Frauen von Engil? Euren Töchtern wird große Ehre widerfahren in Muruks Reich.«
Die Worte des Hohepriesters vergingen erneut scheinbar ungehört. Einige der Augenpaare, die Nona vorhin noch mitleidlos gemustert
hatten, sahen nun aufgebracht und zornig zu ihr hinüber. Für die Rettung dieses Mädchens sollte nun eine andere sterben. Ein
engilianisches Mädchen!
»Meine Geduld kennt Grenzen …«, rief Sasalor in die Menge. |37| »Ich werde einfach alle Mädchen opfern, die in ihrem vierzehnten Jahr stehen, wenn keiner von euch bereit ist, seine Tochter
zu geben!«
Die Menge raunte ängstlich und wurde nervös. Schließlich meldete sich ein Mann zu Wort und trat aus der Reihe hervor. »Hohe priester , ich kenne ein solches Mädchen!« Er wies auf eine Frau, die ein paar Schritte von ihm entfernt stand. »Sie selber hat mir
erzählt, dass ihre Tochter auch am heutigen Tage ihren vierzehnten Sommer erlebt. Ja, gebrüstet hat sie sich damit, welch
ehrenvollen Jahrestag ihre Tochter feiern darf.«
Sasalor wandte sich zu der festlich gekleideten Frau, die erschrocken ein paar Schritte zurückwich. »Ist das wahr, Frau?«
»Nein, Sasalor, Hohepriester des Muruk! Der Mann lügt!«, gab sie mit schriller Stimme zu verstehen. Ihre vor Schreck aufgerissenen
Augen verrieten sie jedoch.
»Er lügt nicht«, behauptete eine andere Frau schnell. »Sie konnte nicht genug Stolz zeigen, mir hat sie es auch erzählt.«
»Deine Tochter – wo ist sie?«, fragte Sasalor streng, doch die Frau schüttelte den Kopf und schwieg. Schließlich trat er zu
ihr hin und ergriff ihr Handgelenk. Er zog die sich wehrende Frau in den Opferkreis und hielt ihr den Dolch an die Kehle.
»Mädchen, wenn du hier bist, dann erfülle dein Schicksal! Ansonsten werde ich deine Mutter als Strafe zu Muruk schicken und
alle Mädchen deines Alters, die ich finden kann. Willst du die Schuld an ihrem Tod tragen?«
»Nein, bleib zurück, versteck dich, gib dich nicht zu erkennen«, schrie die Mutter verzweifelt. Dann trat ein junges Mädchen
ängstlich hinter dem Rücken eines Mannes hervor. Zufrieden ließ Sasalor die Frau los. »Du bist ein gutes Kind, du besitzt
Ehre und Mut. Muruk wird dich freudig in seinem Reich willkommen heißen.«
Die Mutter stürzte auf ihre Tochter zu und wollte sie mit ihrem eigenen Leib schützen, doch Sasalors Priester zerrten sie
von ihr fort. Nona, die das Geschehen mit Entsetzen beobachtet hatte, |38| flüsterte: »Das wollte ich nicht, bei der Liebe Salas, ich wollte
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