Blutschwestern
meinem erbärmlichen Leben. Du hast das Recht, mich zu verachten, aber du
bist ebenso mutlos wie ich. Sonst würdest du mir nicht die Zuneigung deiner Schwester missgönnen.
Nona fragte sich, ob es klug von Ilana war, auf die Treue ihrer Schwesterkönigin zu vertrauen. Akaris Herz war bemüht, Ilana
zu vertrauen, aber würde das über Jahresumläufe hinweg ausreichen, in welchen die Schwestern getrennt voneinander lebten?
Nona folgte Ilana den Hügel hinauf, während die Königin ihr Fragen stellte. Sie wagte nicht, noch einmal Ilana für ihre Rettung
zu danken, aus Angst, Ilana würde sie doch insgeheim für ihre Feigheit verachten.
»Wie heißt du?«, fragte Ilana.
Nona verriet ihren Namen.
»Ein schöner Name …«, bekannte die Schwesternkönigin. »Ebenso wie ich scheinst du nicht aus Engil zu stammen.« Sie seufzte.
»Ebenso wie ich weißt du nicht, wer deine Eltern waren und woher du kommst. Ebenso wie ich kennst du nur das Leben und die
Bestimmung, welche die Priester uns auferlegten. Aber wir können kämpfen, und wir werden kämpfen müssen, Nona! Ich will den
Fluch brechen, ich will nicht das Schicksal der Königinnen teilen, |41| welche vor mir und Akari waren. Ich will verhindern, dass
Akari und ich uns dereinst bekämpfen und töten müssen.«
Nona lauschte ihren Worten, während sie am Haus der Blutschwestern vorbeigingen. Beim Anblick ihres alten Heimes, das sie
nun nie wieder betreten würde, fiel eine schwere Last von ihrem Herzen. Nie wieder würde sie morgens aufwachen und an das
unausweichliche Ende ihres Lebens denken müssen.
Gerade die Geringste von ihnen wurde gerettet! Warum hat die Königin einem unscheinbaren Mädchen wie mir, für das niemand
jemals auch nur einen Finger gerührt hätte, geholfen?
Nona warf einen verstohlenen Seitenblick auf Ilana, die zielstrebig voranschritt. Wie sollte Nona ihr das jemals vergelten
können?
Sie ließen das Haus der Blutschwestern hinter sich. Nona war überrascht, als sie das Haus der Königin erreichten, denn dieses
war wenig prunkvoller oder größer als ihr altes Heim. Lediglich eine Mauer, hinter der sich ein schöner Garten mit Bäumen
verbarg, schien das Haus der Königinnen vom Haus der Blutschwestern zu unterscheiden. Ilana führte sie die kurvenreichen Wege
entlang, bis sie schließlich in einen baumbeschatteten Teil des Gartens kamen, wo Ilana stehen blieb.
»Dawon …«, rief sie leise, »Dawon … wo bist du?«
Ehe Nona hätte fragen können, nach wem Ilana rief, fühlte sie eine leichte Berührung an der Schulter. Dann zupfte jemand an
ihrem Haar. Erschrocken sah sie nach oben und sprang dann mit einem Aufschrei zur Seite. Über ihr auf dem Ast eines Baumes
saß ein Jüngling, fast nackt hockte er dort, nur mit einem Schurz aus Schafsleder bekleidet. Er hatte Nona einige ihrer Haare
ausgerissen und schnupperte nun daran.
»Dawon«, tadelte Ilana den jungen Mann, »du hast Nona erschreckt. Komm herunter und begrüße sie anständig. Nona gehört ab
heute zu meinem Gefolge.«
Mit einem mühelosen Satz schwebte der Jüngling zu Boden und landete federnd vor Nona und Ilana. Seine Augen funkelten in |42| einem lebhaften Grün, und sein dunkles glattes Haar fiel ihm über die Schulter bis auf den Rücken. Nona wich entsetzt zurück,
als sie die Schwingen erkannte, die er in Greifmanier spannte, als er endlich vor ihr stand. Panisch zog sie ihr Schwert aus
dem Waffengürtel und schrie ihn an: »Zurück, Greif, oder ich töte dich!«
»Nona, nimm dein Schwert herunter!«, wies Ilana sie an. »Da won gehört ebenfalls zu meinem Gefolge, er ist ein treuer Freund.«
»Er ist ein Greif!«, rief Nona aufgeregt. »Ein Greif ist niemals Freund der Menschen!«
Der junge Mann zog seine Schwingen ein, um Nona nicht noch mehr zu verschrecken. Mit sanfter, jedoch klangvoller Stimme begann
er zu sprechen. »Nona, schöne Menschin, sieht Dawon aus wie die Greife? Sind Dawons Augen blau und kalt und sein Haar silbern
wie das Eis der Berge? Sind Dawons Schwingen weiß und sein Gesicht leblos?«
Nona war nicht überzeugt von seinen Worten. »Du redest wie ein Greif, du besitzt Schwingen wie ein Greif – was solltest du
wohl sonst anderes sein als ein verfluchter Greif?«
»Dawon weiß es nicht«, antwortete er so sanft wie möglich. »Da won weiß nicht, warum er anders ist als sie, doch er ist es.« Wieder trat er einen Schritt auf sie zu, so als wolle er sie berühren.
Kurz stieg ihr der Hauch
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