Blutschwestern
dunklen Gottes hatte sie trotzdem vierzehn Sommer lang ein Leben führen können, das frei von
Entbehrungen gewesen war. Sie kannte ihre leiblichen Eltern nicht, keines von den auserwählten Mädchen kannte seine Eltern,
ebenso wenig wie die Königinnen ihre Eltern kannten. Doch Nona kannte die Priesterinnen Salas, die sie und die anderen dreizehn
Mädchen, ihre Blutschwestern, aufgezogen hatten. Keine leibliche Mutter hätte ihnen mehr Aufmerksamkeit schenken können; als
Nona etwa sieben Sommer alt gewesen war und bei einer Waffenübung vom Schwert einer Gegnerin verletzt wurde, hatten die Priesterinnen
sie getröstet, ihre Wunden gewaschen, sie in den Schlaf gesungen und ihr ihre Lieblingsspeisen zubereitet. Nona hatte alles
bekommen, was ihr Kinderherz begehrte, denn sie war ein kostbarer Schatz, den man sorgsam hüten musste, damit er am Tag seiner
Bestimmung makellos wäre. Allein ihre Bestimmung verlieh ihr Bedeutung, denn es war nicht leicht, eine der Blutschwestern
zu ersetzen, wenn dieser vor dem Tag ihrer Bestimmung etwas zustieß, da sie unberührt und waffenkundig sein mussten – und
am selben Tag wie die Königinnen geboren. Seit sie laufen konnten, wurden sie von den Priestern Muruks im Waffenhandwerk unterwiesen.
Muruk verlangte nur die besten Kriegerinnen als Sommerwendenopfer. Nona hätte durchaus glücklich sein sollen für ihr erfülltes
Leben; jedoch kam es ihr heute, wo ihr Lebensfaden so jäh durchtrennt werden |17| sollte, viel zu kurz vor. Keine von den Blutschwestern sprach es offen aus, keine von ihnen wagte aufzubegehren. Es waren
so viele vor ihnen diesen Weg gegangen, und es würden noch so viele folgen. Muruks Blutdurst bedurfte stetig neuer Opfer;
es war ausgeschlossen, gegen ihn aufzubegehren.
Nona erhob sich seufzend – ihre Beine schienen schwer wie nie, ihr Magen fühlte sich flau an. Ungelenk, da ihre Finger klamm
waren, schlüpfte sie in die am Vorabend von den Priesterinnen bereitgelegte Kleidung.
Ein letztes Mal!
ging ihr der Gedanke durch den Kopf. Beinkleider und Hemd aus weich gewalktem Schafsleder, vernäht mit den starken von den
Waldfrauen zu feinen Schnüren gedrehten Fasern des riesigen Bellockbaumes, der nur noch in den Wäldern von Isnal wuchs, Stiefel
aus dem robusten Leder des Falbrindes – und dann ihr Waffengürtel aus den Gebirgssilberminen der Greife, auffallend hell schimmernd,
da das Greifensilber besonders rein war und sich auch nicht schwarz färbte, wenn man es nicht ständig polierte. An ihrem Waffengürtel
hingen ihr Kurzschwert aus Rotmetall, das aus Dungun stammte, ihr Kurzbogen und die Pfeile, deren Spitzen ebenfalls aus Rotmetall
gefertigt waren, und schließlich ihr dreieckiges Wurfholz, mit dem sie aus hundert Schritt Entfernung einen Vogel vom Himmel
hätte holen können. Der Waffengürtel war ein Geschenk der Murukpriester und wurde nur jenen Mädchen überreicht, die an besonderen
Tagen geboren worden waren. Nicht selten hatten die Blicke der Engilianer Nona allein aus diesem Grund verfolgt. Muruk war
ein kriegerischer Gott, und es dürstete ihn nach immer neuen Kriegern in seinem Reich. Die Mädchen für die Opferfeste, die
Knaben für den Kampf! So hatte es Muruk vor Jahrtausenden entschieden. Nona würde zwar wie eine Kriegerin in das dunkle Reich
des Gottes eingehen, doch die Ausbildung der Mädchen im Waffenhandwerk geschah nur, um Muruk zu erfreuen.
Sie wusch sich ihr Gesicht in der bereitgestellten Waschschüssel und kämpfte erneut gegen Übelkeit und Schwindelgefühl. Dann |18| betrachtete sie ihr Spiegelbild im Wasser. Dunkelbraunes, glattes Haar rahmte ein schmales Gesicht, dessen Farbe heller war
als die der Engilianer. Was sie am meisten an sich mochte, waren ihre fragenden grauen Augen, die nun bald das Reich Muruks
erblicken sollten. Nein, schön war sie nicht, aber hing nicht die Maus ebenso am Leben wie der Adler? War sie bereit zu sterben?
Geh doch zu Sasalor und flehe um dein Leben. Vielleicht ist ihm deine Erbärmlichkeit zuwider, so dass er dich nicht würdig
für Muruk befindet!
Nona verzog ihr Gesicht.
Ich bin viel zu hässlich für Muruk, Sasalor.
Hastig tauchte sie die Hand ins Wasser, und ihr Spiegelbild verschwamm. Wer fragte schon nach der Bereitschaft einer Blutschwester,
die nicht viel mehr als eine Sklavin war, die man gut behandelte, damit sie ihren Zweck erfüllen konnte. Sie mochte unscheinbar
sein, grau wie eine Maus, das Gesicht schmal, die Haut zu
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