Blutschwestern
dunklen weiten Gewand von der Farbe des Nachthimmels, und
der Stirnreif mit den Zähnen, die sich in die Haut seiner Stirn drückten, unterstrich die Entschlossenheit seines kalten Herzens. |25| Obwohl er fast fünfzig Sommer zählte, wies sein Gesicht nur wenige Falten auf. Böse Zungen meinten, dass er dereinst ein Greif
gewesen war, der sich die Flügel hatte abtrennen lassen, doch Nona glaubte diese Geschichte nicht. Ein Greif konnte sich nicht
einfach seiner Flügel entledigen und zum Menschen werden. Sasalor war einfach ein böser und grausamer Mann, ein Diener des
Muruk, wie es dem dunklen Gott gemäß war.
Nona erstarrte, als der Oberpriester ihr sein blutiges Zeichen auf die Stirn drückte. Sie war derart in Gedanken vertieft
gewesen, dass sie kaum bemerkt hatte, wie er vor sie getreten war. Kurz schienen seine kalten Augen in ihr Herz zu dringen
und es zu umschließen, so dass sich Nona wie von einer eisigen Hand umklammert fühlte, dann ging er weiter zur Nächsten. Nona
atmete auf, als Sasalor sich Tacha zuwandte. Schließlich trat die Hohepriesterin Liandra vor sie und drückte ihr neben das
Zeichen Muruks Salas Mal auf die Stirn – einen schwarzen Abdruck aus Asche, welcher für das verloschene Licht der Göttin stand.
Liandra lächelte Nona aufmunternd an. So furchteinflößend, wie Sasalor auf sie wirkte, so tröstend erschien Nona der Anblick
der Hohepriesterin. Sie war eine junge Frau mit olivfarbener Haut und dunklen glatten Haaren – eine reinblütige Engilianerin.
Liandra galt bei den Schwestern als Schönheit, Nona fand jedoch, dass es vor allem ihre beherrschte und kühle Art war, welche
der Priesterin eine große Anziehungskraft verlieh. Wenn auch Liandra Nona immer wieder vorgehalten hatte, dass ihre einzige
Daseinsberechtigung in der Ehre des Blutopfers für den Schwesternthron bestand, so war sie doch immer freundlich zu Nona gewesen.
Ein schlichter silberner Stirnreif und ein helles wollenes Gewand waren alles, was die Hohepriesterin Salas brauchte, um ihrer
Göttin Respekt zu zollen. Die Augen Liandras schienen zu Nona zu sprechen.
Hab nur Mut, Mädchen. Die Göttin ist bei dir.
Ehe Nona hätte zurücklächeln können, ging Liandra jedoch bereits weiter.
Schließlich, als die vierzehn Blutschwestern ihre Segnungen und |26| Male erhalten hatten, schritten Sasalor und Liandra gemeinsam die Stufen zur Empore hinauf und zeichneten sich gegenseitig
mit dem Zeichen ihrer Götter.
»Sala …«, sprach Sasalor feierlich. »Heute fordere ich mein Opfer.«
Liandra entgegnete ebenso feierlich wie Sasalor: »Muruk, ich werde dir meine Töchter nicht geben!«
Dies, so wusste Nona, war die Litanai, die zu diesem Anlass seit Hunderten von Sommerwenden gesprochen wurde. Sasalor schlüpfte
in die Rolle Muruks, der von Sala ihre Töchter als Opfer forderte, und Liandra in die Rolle Salas, die sich ihm entgegenstellte
und das Opfer verweigerte. Wohin diese Zeremonie führte, wusste jeder Engilianer. Eine der Königinnen würde am Ende des Tages
Engil verlassen und fortan in Dungun leben. Welche der beiden es war, wusste niemand. Die alten Frauen des Isnalwaldes hatten
die Orakel eingehend befragt und würden erst am Abend eintreffen und den Namen der Schwesterkönigin bekanntgeben, die Engil
verlassen musste. Bisher hatte es keine Königin gegeben, die gerne nach Dungun gegangen wäre. Aber ebenso wie die Blutschwestern
mussten auch sie ihr Schicksal annehmen. Zuerst kam die Trennung der Schwesterköniginnen, dann, wenn sie in ein paar Sommerwenden
zu Frauen gereift waren, mussten sie ihre Heere zusammenziehen und in der schwarzen Wüste solange gegeneinander kämpfen, bis
eine von ihnen fiel. Das Heer der gefallenen Königin folgte ihr in den Tod, und die Siegerin kehrte nach Engil zurück, um
zwei neue Mädchen zu suchen, die am gleichen Tag geboren worden und nicht älter als einen Jahresumlauf waren. Sobald die neuen
Königinnen den Schwesternthron bestiegen, dankte die alte Königin ab und verschwand. Niemand wusste, wohin sie ging, manche
meinten, sie würde selber ein Opfer für Muruk werden, andere behaupteten, dass sie nach Erfüllung ihres Schicksals frei wäre,
zu gehen, wohin sie wollte. Auf jeden Fall durften sie nicht nach Engil oder Dungun zurückkehren. Mit der Erfüllung |27| ihrer Bestimmung endete auch ihre Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Menschen. Wenn Dunguns Königin den Sieg über Engil erlangte,
kehrte auch sie nur
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