Blutschwestern
das
Schwesternhaus lag ruhig und verlassen in der Morgensonne. Unbehelligt verließ Nona das Haus, und obwohl sie den Tempel Muruks
Zeit ihres Lebens gescheut hatte, zog es sie nun zum Opferplatz vor dem Tempel. Das Haus der Blutschwestern stand auf einem
Hügel, erhoben und einsam über der Tempelstadt, ebenso wie das Haus der Königinnen. Nona musste einen kleinen steilen Abhang
hinunterlaufen, um in den Tempelbezirk zu gelangen, der von den Priestern abgesperrt worden war. Die schaulustigen Engilianer
wurden erst zum Opferfest eingelassen. Das heutige Opfer für Muruk würde unter Anwesenheit der Engilianer und weniger Auserwählter
stattfinden, welche aus den Königinnen, ihren Beratern, den Priestern und Priesterinnen bestanden. Außerdem würde die Gesandtschaft
aus Dungun der Zeremonie beiwohnen.
Als Nona den Hügel hinabgelaufen war, waren es nur wenige |21| Schritte bis zum Opferplatz. Der Steinkreis war von den Priestern gesäubert worden, so dass das weißrote Mosaik in der Sonne
erstrahlte. In regelmäßigen Abständen waren engilianische Zahlenzeichen am Rand des Steinkreises vermerkt. Vierzehn Sommer
waren die Königinnen nun alt, vierzehn Sommer zählten die Blutschwestern, und vierzehn Mädchen mussten an diesem Tag zu Muruk
gehen. Nona fühlte einen Schauer über ihren Rücken laufen, während sie überlegte, an welchem Platz sie wohl stehen würde,
wenn der Hohepriester Sasalor ihre Kehle durchtrennte. Bilder überfielen sie jäh – schreckliche und beängstigende Bilder.
Sie sah sich mit durchtrennter Kehle im Steinkreis liegen. Sofort begann ihr Herz zu rasen.
Ich kann versuchen, fortzulaufen! Jetzt gleich, ich laufe, bis meine Beine oder meine Lungen mir den Dienst versagen.
Sie schreckte aus ihren Gedanken auf, als sie ein Geräusch hinter sich wahrnahm. Ruckartig fuhr sie herum; als Kriegerin hatte
sie gelernt, schnell zu handeln. Ihre Hand lag bereits am Griff ihres Schwertes. Sie atmete erleichtert auf, als sie das Mädchen
erkannte, das wohl ebenso verängstigt wie sie den Opferplatz aufgesucht hatte. War sie ebenfalls gekommen, um zu fliehen?
Hegte auch sie diesen unmöglichen Gedanken? Oder war sie eine von denjenigen, die andere verrieten, die den Versuch wagten,
ihrem Schicksal zu entgehen? Wie Nona trug das Mädchen die Tracht der Kriegerinnen, hatte helles Haar und grüne Augen; ein
Zeichen dafür, dass sie wie Nona nicht aus Engil stammte, denn die Engilianer waren meist etwas dunkelhäutiger mit dunklen
Augen und fast schwarzen Haaren. Wie sie selbst mochte die Fremde vielleicht von weit her kommen, jenseits des Wiesenlandes,
das im Norden lag und die Grenze Engils bezeichnete. Mit den Völkern dort pflegte Engil keinen Umgang, doch es wurde erzählt,
dass manchmal Kinder von den Priestern gekauft und nach Engil gebracht wurden, um zu Blutschwestern erzogen zu werden. Der
dunkle Gott forderte viele Opfer, und die Engilianerinnen hätten nicht genug Kinder gebären können, um seinen Blutdurst zu
stillen. Nona zwang sich zu einem |22| Lächeln, in der Hoffnung, dass die Andere ihre Fluchtgedanken nicht erriet. »Salas Gruß, Schwester. Du bist nicht auserwählt
für den heutigen Tag, denn ich kenne die anderen Blutschwestern.« Sie schätzte das Alter der Anderen ab und befand, dass sie
fast gleich alt sein mussten, vielleicht war sie einen Sommer jünger als Nona und hierher gekommen, um sich auf das Schicksal
vorzubereiten, welches sie zur nächsten Sommerwende ereilen würde; oder sie war eine der geringeren Blutschwestern, die an
weniger wichtigen Tagen zu Muruk gingen – oder eben doch eine von denen, die andere verriet.
Das Mädchen sah sie traurig an. »Nein, ich bin nicht auserwählt für Muruks Opfer. Bist du eine von denen, die heute zu Muruk
gehen müssen?«
Nona nickte nur kurz, und die Andere senkte den Blick. Dann sah sie Nona erneut an. »Hast du Angst, vor den Gott zu treten?«
Nona wusste nicht, wie sie auf die seltsame Frage antworten sollte. Natürlich hatte sie Angst, ihre Furcht zerriss sie geradezu,
doch es gab durchaus Schwestern, die mit ihrer Furchtlosigkeit prahlten, und eben diejenigen, welche Angst und wenig Begeisterung
für ihr Schicksal zeigten, an die Priester Muruks verrieten. Trotzdem fühlte Nona das Bedürfnis, mit jemandem über ihre Gefühle
zu sprechen. »Ich weiß es nicht, aber ich denke schon. Mir gefällt mein Leben, ich würde es gerne noch ein paar Sommerwenden
behalten
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