Blutsvermächtnis (German Edition)
heranrückten und er den Aufstieg gen Firmament aufnahm.
War er schon keiner Zivilisation begegnet, sah man von den vereinzelten wilden Zweibeinern ab, die er beobachtet hatte, wollte er nun den Himmelsfürsten nahe kommen und sie um Gnade und Milde bitten. Um das Überleben seines Babys, denn der Säugling, der nur wenige Wochen von Muttermilch gestillt worden war, schwächelte dahin. Wo kurze, stämmige Beinchen mittlerweile einen pummligen Körper tragen sollten, baumelten schwache Glieder, dünn wie Reisig am Rumpf des Knaben, den er stets vor den Oberkörper gebunden Herz an Herz mit sich trug.
Zeitweise fing er ein kräftiges Guanako und ritt auf ihm daher, bis er dessen Lebenssaft und Fleisch verzehren musste, um sein Kind und sich zu ernähren. Mit Lama-Milch hatte er es probiert, doch der Kleine erbrach sich, sobald er einige Schlucke getrunken hatte. Hin und wieder erlegte Elasippos Nandus und erneuerte aus deren Federkleid die Schichten, die sein Baby wärmten. Und nichtsdestotrotz spürte er, wie das Sein, das nicht hätte weichen dürfen, den ausgemergelten Leib mehr und mehr verließ. Er ahnte, lange bevor er erkannte, dass die Himmelsherrscher ihn nicht erhörten, dass die Unsterblichkeit seiner Väter nicht in seinem Nachwuchs zu keimen gedachte. Das Vermächtnis seines Blutes war nicht ausreichend gekräftigt, um die gnadenlose Härte ihrer Existenz zu bezwingen.
Er bot seine Seele für das Fortleben seines Sohnes, aber der Himmel nahm ihm auch das Letzte, für das es sich zu leben lohnte.
1 ein in der Antike geschildertes Bergerz
Santiago, Chile – Los Angeles, Kalifornien
N evaehs Lippe war nach wie vor geschwollen, obgleich der Coronel sie nicht erneut berührt hatte. Während des Fluges mit einer Militärmaschine hatte sie immerhin herausgefunden, dass man sie nach Santiago brachte, in die Hauptstadt Chiles. Sie waren bei Nacht gelandet und man hatte sie in einer stickigen und stinkenden Gegend schmale Gassen entlanggefahren, bis sie vollends die Orientierung verlor und kein Straßenschild mehr Auskunft gab, wo sie sich befinden mochte. Sie hielten vor einem altertümlich aussehenden Gebäude, das den Sicherheitsmaßnahmen nach zu urteilen jedoch eine hochmoderne Festung darstellte. Nevaeh vermutete eine Militäreinrichtung, obwohl der oberflächliche Eindruck das nicht bestätigte. Zwei Männer lösten den Coronel ab und trieben sie dunkle Gänge entlang, bis man ihre Hände auf dem Rücken fesselte und sie in eine karge Zelle stieß. Es gab weder ein Fenster noch ein Bett, geschweige denn eine sanitäre Ausstattung.
Nevaeh war viel zu wütend, um der Angst nachzugeben. Sie brodelte, doch sie zwang sich, Mut und Widerstand zu demonstrieren. Es half nicht. Man ignorierte ihre energischen Forderungen, später ihr Schreien und Toben, das Rütteln an den Gitterstäben. Die Fassade bröckelte, bis allein blanke Verzweiflung blieb. Sie sackte mit den Schultern an eine Wand und rutschte zu Boden. Es mussten etliche Stunden seit ihrer Gefangennahme vergangen sein, sie tippte auf zwölf bis zwanzig, und die Antwort auf die Frage nach dem Warum schwebte weiterhin im Nirwana.
„Kommt endlich her! Sagt mir, weshalb ich hier bin!“, brüllte Nevaeh und bemerkte nach einer Weile, dass nur ein Flüstern ihre Kehle verlassen hatte. Sie versuchte, eine bequemere Position einzunehmen. Ihre Handgelenke und Arme schmerzten, ein Rauschen dröhnte in ihrem Schädel. Sie schloss die Augen und zählte beim Ein- undAusatmen in Gedanken mit, bis ihr rasender Puls sich ein wenig verlangsamte und nicht mehr in den Schläfen hämmerte. Sie blinzelte gegen Tränen an und schlug mit dem Hinterkopf rhythmisch an die Mauer. Immer langsamer, als glitte sie in eine tiefe Selbsthypnose. Dann projizierte sie ein Foto an die Innenseite ihrer Lider, wie sie es mit beliebigen Bildern als kleines Mädchen getan hatte, in den langen, nicht enden wollenden Nächten, in denen sie an die fluoreszierenden Sterne an der Zimmerdecke gestarrt hatte, um das Träumen zu unterbinden. Irgendwann war sie mit diesem Standbild im Kopf eingeschlafen.
Jetzt stellte sie sich das Bergmassiv am Horizont hinter dem Camp vor. Die Grenzlinie zwischen Himmel und Erde besaß etwas Magisches. Ein Ort, so nah und doch so fern und niemals erreichbar. Vom ersten Tag an im Tal des Todes hatte sie den bloßen Anblick der dreieckigen Silhouette des Vulkans Licancabur wie köstlichen Duft aufgesogen. Mit seiner eisbedeckten Spitze zeichnete er sich vor dem
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